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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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klar? Alles, was als Herausforderung des Status quo interpretiert werden könnte – verbeiß es dir. Wenn Hannibal merkt, dass du zur nachdenklichen Sorte gehörst, hält er dich für gefährlich und schmeißt dich raus. Er will, dass alles so bleibt, wie’s ist.«
    »Komm schon, Louise, jetzt tust du ihm Unrecht«, sagte
Katzmann. »Vor zwei Wochen hat er eine voll ausgerüstete Expedition ins Labyrinth geschickt, mit dem Auftrag, es zu erforschen.«
    »Im Ernst?«, fragte Louise überrascht.
    »Ich glaube, er ließ sich von Abigale dazu drängen«, meinte Mikado.
    »Wer leitet die Expedition?«
    »Petrow.«
    Louise nickte langsam. »Petrow ist ein guter Mann. Hat noch nicht das Denken verlernt. Gibt es irgendwelche Nachrichten von der Expedition?«
    »Bisher noch nicht.«
    Eine Zeit lang schwiegen sie, und dafür war Benjamin dankbar. Ihm schwirrte der Kopf von Namen, mit denen er keine Gesichter in Verbindung bringen konnte, und von Dingen, die er nicht verstand. Er sah nach draußen und stellte fest, dass die Häuser nicht mehr völlig dunkel waren. Hier und dort sah er Licht in Fenstern.
    Ein lautes Knacken kam aus dem Funkgerät, und dann: »Katzmann, Mikado, hört ihr mich?«
    »Na endlich!« Mikado hob das Walkie-Talkie, erstattete jemandem namens Oskar Bericht und wies daraufhin, dass sie mit Louise und einem Neuen zurückkehrten. Es folgte ein längeres Gespräch, an dem Benjamin schnell das Interesse verlor. Er sah wieder hinaus in die Stadt, beobachtete die vielen dunklen und wenigen hellen Fenster. Seine Gedanken kehrten zu Kattrin zurück; er fühlte sich fast schuldig, schon seit einer ganzen Weile nicht mehr an sie gedacht zu haben, und fragte sich, was mit ihr geschehen sein mochte, wenn sie nach ihrem Tod irgendwo jenseits des Nebels angelangt war.
    »Warum wollte Laslo durch den Nebel?«, fragte Louise etwa eine halbe Stunde später, als Mikado das Walkie-Talkie ausschaltete und es vor ihnen hell wurde.
    »Vielleicht aus Liebeskummer«, sagte Katzmann.
    »Ha!«, machte Louise.
    Katzmann fuhr langsamer und steuerte den Wagen an einem Schlagbaum vorbei, den zwei in lange Mäntel gekleidete Männer gehoben hatten. Sie winkten, und Benjamin stellte fest, dass sie bewaffnet waren.
    »Wir sind da«, sagte Katzmann.

Die Gemeinschaft

6
    Vom hellen Licht zahlreicher Lampen der Nacht entrissen, ragte weiter vorn die weiße Fassade eines prunkvollen Gebäudes auf. Mehrere Stockwerke hohe kannelierte Säulen, die Benjamin an das Theater in der Stadt erinnerten, säumten die breite Treppe und wurden an den Flanken zu Pfeilern, die bis zum Dach reichten. Von zwei kleinen Scheinwerfern angestrahlt, formten über dem Eingang goldene Buchstaben das Wort »Gloria«, wobei das »G« leicht zur Seite geneigt war. Darüber bildeten fünf goldene Sterne einen Bogen. Einer von ihnen war irgendwann abgefallen, und man hatte mit goldener Farbe einen Stern in die Lücke gepinselt. Vor dem Hotel, das offenbar das Zentrum der Gemeinschaft bildete, erstreckte sich ein kleiner Park, mit Büschen, Bäumen, gepflegten Rasenflächen und Blumenbeeten. Beim Anblick dieser Gartenanlage fiel Benjamin auf, dass er zuvor in der Stadt nicht einen einzigen Baum gesehen hatte, auch keinen einzigen Grashalm am Rand der Bürgersteige oder in den vielen Rissen, die den Asphalt durchzogen. Als der Wagen vor der Treppe hielt, als Benjamin zusammen mit Louise, Katzmann und Mikado ausstieg, am Hotel hochsah, Musik und die Stimmen von Menschen hörte, die die Treppe herunterkamen
und ihn begrüßten, als er dann langsam den Kopf drehte und über den Park blickte … Es fiel ihm plötzlich schwer, dies alles für Wirklichkeit zu halten. Stocksteif stand er da, umgeben von Stimmen, Gesichtern und Licht, und er dachte: Ich träume. Dies alles ist ein Traum. Wenn ich es will, wenn ich es wirklich will, kann ich daraus erwachen.
    Er schloss die Augen, blendete die Stimmen aus, achtete nicht auf die Hand, die ihn am Arm berührte – Louise? –, und dachte: Wenn ich die Augen wieder öffne, ist dies vorbei. Aber dann wagte er plötzlich nicht, die Augen zu öffnen, weil er fürchtete, in einem Krankenhaus zu erwachen, ohne Beine. Die Beine. Seht euch seine Beine an, flüsterte es in seiner Erinnerung, und er fragte sich, was besser war: Das Leben in einem Traum, mit unversehrtem Körper, oder ein von Halluzinationen befreites Bewusstsein, das in einem verkrüppelten Leib steckte.
    »Der Tod ist das größte Trauma unserer Existenz«, erklang eine

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