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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Zimmer stammte von einem kleinen Kronleuchter und flackerte kurz, als Benjamin aufsah.
    »Unser Generator muss überholt werden«, sagte Hannibal. »Wir warten darauf, dass die benötigten Ersatzteile im Supermarkt erscheinen. Bitte setz dich, Benjamin.« Er deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Was auch immer dir Louise über mich erzählt hat … Warte, bevor du urteilst. Sieh dich um. Sprich mit den anderen. Lern unser Leben kennen.«
    »Wir sind eine Oase inmitten einer Wüste«, sagte Abigale. Ihre Stimme passte zu dem Lächeln, war weich und sanft.
    »Mit der Wüste meinen Sie die Stadt, nehme ich an?«
    »Wir duzen uns, Benjamin«, sagte Hannibal. »Und ja, die Stadt ist wie eine Wüste, und wir sind das Leben in ihr. Die ›Oase‹ ist unsere Gemeinschaft, ein Hort der Zivilisation, umgeben von Anarchie. Wir müssen uns schützen, und dafür sind gewisse Regeln notwendig. Du wirst das alles verstehen, mit der Zeit. Lass uns nichts überstürzen. Noch stehst du
unter dem Schock der Veränderung. Du brauchst Zeit, um deinen Tod zu verarbeiten und dich an alles zu gewöhnen. Sag mir, Benjamin … Wie bist du gestorben? Und wann?«
    Benjamin saß inzwischen auf dem harten Stuhl. »Wann?«
    »In welchem Jahr?«
    »2010«, sagte Benjamin. »Am dreizehnten Mai, meinem vierzigsten Geburtstag.«
    Hannibal und Abigale wechselten einen kurzen Blick.
    »Ich bin im Jahr 1961 gestorben und jetzt dreißig Jahre hier«, sagte Abigale sanft.
    »Ich bin fast achtzig Jahre hier und 1999 gestorben«, fügte Hannibal hinzu.
    »Aber …«, begann Benjamin.
    »Die Zeit ist asynchron«, fuhr Hannibal fort. »Während hier bei uns eine Minute vergeht, könnten in der anderen Welt, in der wir lebten, Tage oder Wochen vergehen. Oder umgekehrt. Menschen kommen aus unterschiedlichen Epochen zu uns. Einmal hatten wir jemanden aus dem neunzehnten Jahrhundert, aber er verschwand nach wenigen Wochen.«
    »Er verschwand?«, wiederholte Benjamin und versuchte zu verstehen.
    Hannibal und Abigale wechselten einen neuerlichen Blick. »Es kommt vor, dass Leute verschwinden«, sagte Abigale langsam. »Aber mach dir deshalb keine Sorgen, Benjamin. Bei uns bist du gut aufgehoben. Bitte sag uns jetzt: Wie bist du gestorben?«
    Das Krachen, eine Leitplanke, die wie Pappe brach, das Ungetüm des heranrasenden Lastwagens … Benjamin sah und hörte es wieder, mit quälender Deutlichkeit. Er krallte
die Hände unter die Sitzfläche des Stuhls und rief: »Kattrin! Vielleicht ist sie irgendwo in der Stadt! Wir müssen sie suchen!«
    »Wer ist Kattrin?«, fragte Abigale.
    »Meine Frau! Sie … Wir sind beide bei dem Unfall gestorben. Ich erwachte in der Stadt, bei Louise, die mich in einen Hauseingang gezogen hatte, aber Kattrin war nicht da, und dann kam der Nebel.« Er erzählte, was geschehen war, berichtete von den leeren Straßen und davon, dass er immer wieder nach Kattrin Ausschau gehalten hatte. Als er die beiden Schatten erwähnte, von denen Louise glaubte, dass sie beim Theater auf sie gewartet hätten, wurde Hannibal sehr ernst, gab dem Protokollführer ein Zeichen und machte sich eine Notiz.
    »Es tut mir sehr leid um deine Frau, Benjamin«, sagte Abigale. »Wenn sie wie du in der Stadt erschienen ist, so wird man sie früher oder später finden und zu uns bringen. Alle wissen, dass wir so etwas mit einem Besuch des Supermarkts belohnen. Aber wenn der Tod sie nicht hierherbrachte …«
    »Vielleicht betrifft dies allein dich«, sagte Hannibal.
    »Was? Was soll mich betreffen?«
    »Warum erscheinen nicht alle Toten in der Stadt, Benjamin? Es sterben dauernd Menschen, durch Krankheit, durch Unfälle, durch Gewalt. Aber nur wenige erwachen nach ihrem Tod hier in dieser Stadt. Unsere Gemeinschaft umfasst etwa dreihundert Personen, und die Anarchie dort draußen, bestehend aus den angeblichen ›Freien‹ und den Streunern … Vielleicht sind es noch einmal dreihundert Personen. Sechshundert Männer und Frauen, ein paar Kinder … Mehr nicht. Dafür muss es einen Grund geben.«

    »Glaubst du an Gott, Benjamin?«, fragte Abigale.
    Lieber Himmel, dachte Benjamin und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Hoffentlich bin ich hier nicht bei Fundamentalisten gelandet, von welcher Sorte auch immer.
    »Ich bin nicht sicher, woran ich glauben soll«, antwortete er vorsichtig.
    »Es gibt Theorien …«, begann Abigale.
    »Ja, es gibt Theorien, aber nur eine von ihnen ist richtig«, sagte Hannibal. »Dies ist eine Prüfung. Wir sind hier, weil über

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