Die Stadt - Roman
hier vor vielen Jahren und Jahrzehnten an, andere, wie du, erst vor kurzem.«
»Ist sie die Traurige?«, fragte Benjamin. »Ist sie Françoise?«
»Ich denke schon.«
»Du weißt es nicht genau?«
»Woher soll ich es genau wissen?«, erwiderte Laurentius. »Ich bin nicht das Hirn der Jenseitsmaschine, nur ihr Aufseher. Jemand, der darauf achtet, dass alle Zahnräder richtig ineinandergreifen, und das ist nicht nur im übertragenen Sinn gemeint.« Er zuckte die Schultern. »Wenn ihr mich fragt: Sie hätten sich die Mühe sparen können.«
»Sie? Wen meinst du mit ›sie‹?«
»Eins nach dem anderen, mein Junge.« Laurentius stand auf, brachte Louise einen geschälten Apfel und kehrte dann zum Tisch zurück, der in der Mitte des Zimmers stand, umgeben von Säulen aus blutrotem Marmor, darin die Darstellungen von Schlangen. Den zweiten geschälten Apfel bekam Benjamin. »Esst die Kerne ruhig mit. Es kann nicht schaden, zusätzliche Türen und Fenster in eurem Bewusstsein zu öffnen, auf dass es gut gelüftet wird und Erkenntnis Einzug halten kann.«
Das Feuer im Kamin knackte, und ein Scheit sank tiefer in die Glut. Funken stiegen auf. Louise biss in den Apfel und kaute.
»Das Institut, die Flammen und dann die Stadt«, sagte
Benjamin, den Blick auf Laurentius gerichtet. »Ich nehme an, es gibt einen Zusammenhang mit der Maschine.«
Der alte Mann auf der anderen Seite des Tisches lächelte entzückt. »Bravo! Der Apfel wirkt schon. Du hast die Gasexplosion im Institut verursacht. Es war dein Feuer, das all diese Menschen verbrannte, und als die Jenseitsmaschine deine – nun, nennen wir es ›Seele‹; Kowalski würde vielleicht von einer ›Quantensignatur‹ sprechen – empfing, holte sie auch all die anderen hierher.«
»Weil die Seelen miteinander verbunden sind«, sinnierte Benjamin.
»Durch ein Geflecht aus direkter und indirekter Verantwortung. Und durch Erinnerungen. Apropos Erinnerungen. Du hast im Augenblick des Todes versucht, dir deine echten zu bewahren, aber sie vermischten sich mit denen, die Townsend dir eingepflanzt hat, und das Resultat war Chaos. Nun, deine Verantwortung – deine Schuld – war es, die die anderen Menschen im Institut in die Stadt brachte, unter ihnen den Mann, den du zuvor eigenhändig umgebracht hast.«
»Dago«, sagte Benjamin. »Townsend.«
»Ja. Und die Seelen – beziehungsweise Quantensignaturen – der anderen verfügten ebenfalls über Verbindungen, manche stark, andere schwach. Das brachte auch Menschen hierher, die nicht im Institut gestorben sind. Zum Beispiel jemanden, den du gehasst hast, Louise.«
Sie hatte den Apfel ganz aufgegessen, entfaltete die Decke und zog sie trotz des wärmenden Feuers bis zu den Schultern hoch. »Ich habe damals viele Leute gehasst.«
»Aber einen Mann vielleicht noch mehr als die anderen?«
»Der erste«, sagte sie nachdenklich. »Der miese Typ, der
auf mir lag, als ich aus der Benommenheit erwachte. Der es erst mit meiner Mutter trieb und dann mit mir. Er stank, der widerliche Kerl. Und er sang, wenn er kam.«
»Was sang er, Louise? Vielleicht ein kleines Hosianna?«
»Leclerc«, hauchte Louise. »Jetzt fällt mir sein Name wieder ein. Der verdammte Kerl hieß Leclerc. Und ja, er sang immer ein verdammtes Hosianna. Hielt Vorträge, kaum dass er fertig war. Wollte uns vom falschen Weg abbringen und so weiter. Was für ein verdammter scheinheiliger Heuchler! Hatte die Hose noch nicht ganz zu, als er von Sünde faselte, von einer Waage, die das Gute in der einen Waagschale und das Böse in der anderen hält …« Louises Augen wurden groß. » Nein!«
»Doch«, sagte Laurentius.
»Leclerc ist … Hannibal? Das erklärt so einiges.«
»Er starb an dem Tag, als das Institut niederbrannte. Stürzte in Paris in einen offenen Gully.«
»Er fiel in ein Loch«, sagte Louise. »Das passt!«
»Die Maschine reagiert auf Verbindungen und die Nähe des Todes«, betonte Laurentius. »Deshalb kam Leclerc hierher und nicht in eine der anderen Städte.«
»Aber warum erinnern wir uns nicht?«, fragte Louise, während Benjamin versuchte, seine plötzlich wirren Gedanken zu ordnen. »Wenn ich wirklich die Traurige bin, und Hannibal Leclerc … Wieso erinnern wir uns nicht daran?«
»Weil Benjamin eine Anomalie ist«, erwiderte Laurentius. »Womit wir beim Problem wären. Er hätte die Stadt längst verlassen sollen. Er brachte hier alles durcheinander.«
»Hast du mich deshalb auf den Ballon hingewiesen?«, fragte Benjamin, die Reste
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