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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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erinnerte sich gar nicht daran, dass sie die Lore verlassen hatten.
    Als Benjamin wieder nach vorn blickte, hatte das Licht das Heer der Schatten erreicht.
    Zu Tausenden standen sie da, reglos und stumm, glitzerndes Eis unter ihren Füßen: dunkle Gestalten ohne Gesichter, wie eine Armee, die auf den Einsatzbefehl ihres Kommandeurs wartete.
    »Gefallen sie euch, meine kleinen Helfer?«, fragte Laurentius stolz.
    » Deine kleinen Helfer?«, brachte Benjamin hervor.
    »Oder auch deine, wie man’s nimmt. Es kommt ganz auf die Perspektive an.« Nach einem Blick in Benjamins Gesicht fügte er hinzu: »Du hast es noch immer nicht begriffen, oder?«
    »Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr eure Verwirrspiele auf später verschieben könntet.« Louise taumelte.
    »Oh, ich bitte um Verzeihung, junge Dame.« Laurentius streckte die freie Hand aus und deutete am leise knurrenden dunklen Riesen vorbei zu den Gebäuden, die sich einige Kilometer entfernt an die Hänge eines in dieser dunklen Unterwelt aufragenden Hügels schmiegten. Auf der Kuppe dieses Hügels stand ein mehrere Hundert Meter hoher Turm, und als Laurentius die Finger bewegte, brannte dort plötzlich Licht in den Fenstern.

    »Das ist zu weit.« Louise schwankte so sehr, dass Benjamin sie stützte. »Ich schaffe es nicht bis dorthin.«
    »Möchtet ihr den Turm erreichen?«, fragte Laurentius und hob die Brauen.
    »Ja, aber …«
    »Du auch, Benjamin?«
    »Laurentius, hör endlich auf …«
    »Dies ist wichtig, Benjamin. Du musst endlich verstehen.«
    »Was sollen wir verstehen, verdammt?«, fragte Louise und stützte sich schwer auf Benjamin. »Red endlich Klartext!«
    »Ihr müsst beide verstehen, aber vor allem er, denn er hat euch hierhergebracht. Das weiß er inzwischen, aber er hat immer noch nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Möchtest du zu dem Turm, Benjamin? Er ist gewissermaßen die Nabe dieser Welt.«
    »Wenn wir dort ausruhen können …«
    »Ja, dort könnt ihr ausruhen«, sagte Laurentius. »Und ich werde versuchen euch alles zu erklären.«
    »Na gut, ich möchte zum Turm, ja.«
    »Dann mach den Schritt, mein Junge.«
    Benjamin trat vor …
    … und stand plötzlich auf einem Balkon, mindestens zweihundert Meter über den dunklen Gebäuden an den Hängen des Hügels.
    »Na, war doch gar nicht so schwer«, sagte Laurentius hinter ihm, während sich Benjamins Hände am niedrigen Geländer festkrallten und Louise neben ihm mit einem überraschten Seufzen zu Boden sank.

    Ein Feuer brannte im Kamin, mit leisem Knacken und Knistern, und wohlige Wärme breitete sich in dem großen Raum aus, einer Mischung aus Küche und Salon. Louise saß am Feuer, zurückgelehnt in einem Schaukelstuhl und mit einer Decke über den Beinen. Benjamin und Laurentius hatten nach der Mahlzeit – einem Eintopf, der ebenso lecker gewesen war wie das Essen in Laurentius’ Observatorium – den Tisch abgeräumt und dann wieder dort Platz genommen, mit einer Kanne Tee zwischen sich.
    »Ich schätze, Hannibal wäre ziemlich sauer, wenn er uns jetzt sähe«, sagte Louise und schnaufte zufrieden. »Was ist mit den anderen Leuten passiert, die er ins Loch geschickt hat? Hast du sie ebenfalls bei dir bewirtet? Und warum ist niemand von ihnen zurückgekehrt?«
    »Weil eine Rückkehr nicht möglich ist. Nicht in die Stadt, aus der ihr kommt. Wer ihr Wirkungsfeld verlässt, kann nicht zurück. Im Labyrinth wart ihr nahe dran. Dir fiel auf, dass die Kratzer nicht von deinen Händen verschwanden, Benjamin. Aus gutem Grund. Ihr seid dem Rand des Einflussbereichs dieser Jenseitsmaschine sehr nahe gewesen.«
    »Jenseitsmaschine?«, wiederholte Benjamin und dachte an die großen Zahnräder, die er im alten Fabrikgebäude gesehen hatte, kurz vor dem Aufbruch mit dem Heißluftballon. Er beugte sich vor. »Heraus damit, Laurentius. Wer bist du? Was geht hier vor? Was hat es mit der ›Jenseitsmaschine‹ auf sich?«
    »In dieser Reihenfolge?«, fragte Laurentius. Er holte drei Äpfel hervor und begann damit, sie zu schälen.
    »Wie wär’s, wenn du mit dem Anfang beginnst?«, schlug Louise vor.
    »Tja, aber mit welchem Anfang, meine Liebe? Mit eurem
oder mit meinem? Bei euch begann alles mit dem Tod.« Laurentius sah von den Äpfeln auf. »Die Gasexplosion im Keller des Instituts. Das Feuer, dem das ganze Gebäude zum Opfer fiel … Ihr seid darin verbrannt, und der Tod brachte euch in die Stadt. Das mit der asynchronen Zeit weißt du ja inzwischen, Benjamin. Manche der Toten kamen

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