Die Stadt - Roman
beobachtete. Die Finsternis, erfüllt vom
Rattern der Lore und dem Pfeifen ihrer Räder auf den Gleisen, schloss sich ganz um sie.
Benjamin rückte näher an Louise heran. Der Fahrtwind riss den Gestank des Erbrochenen fort.
»Bist du wirklich eine Hure gewesen?«, wiederholte er und fragte sich, warum er keine Furcht empfand. Hatte er noch nicht richtig begriffen, was geschah?
Seite an Seite saßen sie in der Dunkelheit, im Rücken die geschlossene hintere Klappe des ratternden, wackelnden Wagens. Louise schniefte.
»Ja, bin ich«, sagte sie. »Ich bin eine verdammte Hure gewesen. Und?«
»Nichts und. Wie kam es dazu?«, fragte Benjamin und spürte, wie sich ungeachtet der Umstände eine sonderbare Ruhe in ihm ausbreitete. Sie konnten nichts tun. Was auch immer passierte, es ließ sich nicht ändern.
»Wie kommt es zu so etwas?«, erwiderte Louise. »Vielleicht lag es ein bisschen daran, dass meine Mutter eine Hure war und ich in den ›Les bricks‹ von Marseilles aufgewachsen bin.«
»Ich nehme an, die ›Les bricks‹ sind kein besonders gutes Viertel, oder?«
»Ha!«, machte Louise. »Ich lernte viele ›Onkel‹ kennen. Sie gingen dauernd bei uns ein und aus, und ich fragte mich damals, wie es kam, dass wir so viele Verwandte hatten und doch allein lebten.«
Louise schwieg kurz, und Benjamin tastete im Dunkeln nach ihrer Hand. Das Wackeln und Schwanken der Lore ließ ein wenig nach, und das Pfeifen der Räder war nicht mehr ganz so laut.
»Es geht nicht mehr so steil hinab«, sagte Benjamin. Als Louise nicht weitersprach, fragte er: »Hat dich deine Mutter gezwungen …?«
»Sie hat mich eingesperrt«, sagte Louise. Benjamin spürte, wie sie die Beine anzog und die Arme darum schlang. »Zuerst in die Besenkammer. Als ich so dumm war, an der Tür zu rütteln, kam ich in den Keller. Ben?«
»Ich bin hier«, sagte er.
»Ich weiß, dass du da bist, verdammt! Wir sind verrückt, weißt du das?«
»Warum?«
»Weil wir hier sitzen und über mein Leben reden, während wir in diesem verdammten Wagen in den Tod rasen.«
»Wir werden nicht sterben«, sagte Benjamin.
»Weil du es sagst?«
»Weil wir nicht sterben werden.« Er wusste es, ohne jeden Zweifel. Nicht der Tod erwartete sie, sondern …
Benjamin runzelte die Stirn und versuchte den Gedanken festzuhalten, aber er entwand sich ihm wie eine Schlange.
»Habe ich dir gesagt, dass ich in der Stadt nichts mehr gefürchtet habe als das Loch, Ben?«
Er nickte, was sie natürlich nicht sehen konnte. »Darauf hast du hingewiesen.«
»Und jetzt stecke ich mittendrin!«
»Nicht mittendrin«, sagte Benjamin. »Ich schätze, wir sind fast am Boden.« Er richtete sich halb auf, und tatsächlich: Der Fahrtwind war nicht mehr so stark wie vorher. »Was geschah dann?«, fragte er.
»Was?«
»Nachdem dich deine Mutter eingesperrt hat.«
»Irgendeiner der ›Onkel‹ bemerkte mich und bot ihr offenbar viel Geld. Und sie brauchte die Knete. Erst für Koks und dann für Heroin. Sie muss mir irgendwas gegeben haben, vielleicht in meinen Tee, was weiß ich. Ich erinnere mich daran, dass ich benommen war und wie aus einem Traum erwachte, mit diesem Kerl auf und in mir. Es war widerlich . So begann es, und von da an ging’s bergab.«
Benjamin horchte. Noch immer kam ein Pfeifen von den Rädern der Lore, aber es war nicht mehr annähernd so laut wie vorher, und hinter diesem Pfeifen knisterte etwas in der Finsternis.
»Und weiter?«, fragte er mit geteilter Aufmerksamkeit.
»Schließlich teilte meine Mutter nicht nur ihre Freier mit mir – die sie bezahlten, nicht mich –, sondern auch die verdammten Drogen. Eines Tages starb sie an einer Überdosis, und ich machte dort weiter, wo sie aufgehört hatte. Ich kannte nichts anderes. Die Schule hatte ich längst geschmissen, und außerdem machte ich zu Anfang ziemlich viel Kohle. Für schicke Klamotten und so. Aber dann ging immer mehr für Drogen drauf, und irgendwann hatte ich einen Zusammenbruch und bin in einer Klinik aufgewacht. Der dortige Chefarzt …«
»Townsend«, warf Benjamin ein und spürte, wie die Lore noch langsamer wurde.
»Er war ein verdammter Mistkerl. Er … Ach, es würde zu weit führen, den ganzen Kram zu erzählen. Jedenfalls, ich sammelte Medikamente, alles, was ich kriegen konnte, schluckte den ganzen Kram und schnitt mir die Pulsadern auf, nach dem vergeblichen Versuch mit den Halsschlagadern.«
»Du bist sie«, sagte Benjamin. »Die Traurige, die ich im Institut kennengelernt
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