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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Rad am Feuerstein. Ein Funke flog, Gas entzündete sich.
    Jähes Licht flammte auf, mit der Helligkeit eines Scheinwerfers. Benjamin starrte einen Moment und nahm dann den Daumen von der kleinen Taste, die das Gas aus der Düse
des Feuerzeugs strömen ließ. Schlagartig kehrte die Dunkelheit zurück, für die vom plötzlichen Licht überraschten Augen noch finsterer als vorher. Er schloss die Augen, um sich ganz auf das Gehör zu konzentrieren, hielt den Atem an und lauschte.
    Es blieb still. Der Wächter vor der Tür hatte nichts bemerkt.
    Was hatte er während des kurzen Lichtscheins der Flamme gesehen? Benjamin rief ein Erinnerungsbild ab, und es erwies sich aus erstaunlich detailliert. In der Mitte des Lagers ragten in Abständen von knapp zehn Metern sechs kantige Pfeiler aus Beton empor, die das Dach trugen. Links von ihnen stand aufgebockt und ohne Räder das rostige Gerippe eines alten Fahrzeugs, vielleicht ein Reinigungswagen, der irgendwann einmal für die Säuberung der Straßen eingesetzt worden war. Weiter hinten lagen Reifen in unterschiedlichen Größen. Auf der rechten Seite …
    Benjamin hielt die Augen weiterhin geschlossen, betrachtete das Erinnerungsbild wie ein Foto und fragte sich, ob er zu seinen Lebzeiten gelegentlich in Situationen geraten war, die es erforderten, sich innerhalb eines Sekundenbruchteils möglichst viele Einzelheiten einer bestimmten Szene einzuprägen. Es überraschte ihn, wie viel er gesehen hatte, und er vermutete, dass so etwas ein spezielles Gedächtnistraining erforderte.
    Auf der rechten Seite stand eine lange Werkbank, darauf ruhten Karosserieteile neben Werkzeugen und Komponenten eines demontierten Motors. An der Rückwand gab es ein Geländer, und dahinter führten Treppenstufen nach unten. Auf dem Weg dorthin gab es keine Hindernisse.

    Benjamin schätzte die Entfernung ab, etwa sechzig Meter, ging los und zählte seine Schritte. Als er glaubte, sein Ziel fast erreicht zu haben, streckte er die Hand mit dem Feuerzeug aus, setzte den Weg langsam fort und tastete dabei in der Dunkelheit nach dem Geländer.
    Das Feuerzeug stieß mit einem leisen Klacken dagegen.
    Das Geländer führte ihn zu den Stufen, und Benjamin vertraute sich ihnen an, trat eine nach der anderen hinunter – hier lag wieder unbekanntes Terrain vor ihm.
    Nach zwanzig Stufen erreichte er ebenen Boden, und drei Schritte später stieß die ausgestreckte Hand an eine Mauer. Es ging links weiter, über eine zweite Treppe, die ebenfalls zwanzig Stufen hatte. An ihrem Ende blieb Benjamin stehen, fand eine offene Tür, drückte sie hinter sich halb zu und ließ sie los, als sie zu quietschen begann.
    Nach zwei weiteren Schritten stieß er mit dem Fuß gegen etwas auf dem Boden und wäre fast gefallen. Er entzündete das Feuerzug und vergewisserte sich, dass durch die halb geschlossene Tür kaum Licht bis ins Treppenhaus reichte – der Wächter würde selbst dann keinen Widerschein sehen, wenn er vor dem Eingang des Lagerhauses stand und durch einen Spalt zwischen den Brettern blickte.
    Er zündete die Kerosinlampe an und drehte den Docht herunter.
    Mehrere Backsteine lagen vor ihm auf dem Boden, neben zwei Schubkarren, die noch mehr enthielten, einigen großen Eimern und einem Sack Zement. Rechts war der Beginn einer neuen Mauer zu erkennen — offenbar hatten Hannibals Leute am Abend mit der Arbeit begonnen und sie dann unterbrochen, als es spät geworden war.

    Benjamin trat über die Steine hinweg in den Tunnel, der nach zwei Dutzend Metern zu einer weiteren Treppe führte, die steiler und viel länger war als die beiden anderen. Er hatte fast hundert Stufen gezählt, als er schließlich ihr Ende erreichte, und dort drehte er den Docht höher. Das Licht wurde heller und drängte die Dunkelheit um ihn herum etwas weiter zurück.
    Die lange Treppe endete an einer mehrere Meter breiten Nische in der Wand eines Tunnels, der sich nach rechts erstreckte – Schienen verschwanden dort in der Finsternis. Links stand eine Draisine auf den Gleisen, und hinter ihr endete der Tunnel an einer Betonwand.
    Benjamin leuchtete unschlüssig mit der Lampe. Was mache ich hier?, dachte er. Er hatte das Labyrinth sehen wollen, bevor Hannibal den Zugang vermauern ließ, und jetzt sah er es, zumindest den Anfang, doch das war nicht genug. Vorsichtig, Ben, flüsterten seine Gedanken, als er die Lampe höher hielt, erst die Draisine betrachtete und dann nach rechts sah, in die Dunkelheit, die dort auf ihn wartete. Bestimmt

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