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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Desperados, in der er sich wohlzufühlen schien. Jeder von ihnen versuchte auf seine Art und Weise, Kontrolle auszuüben, auf das eigene Leben und das der anderen Menschen. Aber wenn Benjamin Erinnerungsbilder ihrer Gesichter betrachtete, so sah er darin Tränen wie in jenen der beiden Puppen im Waggon.
    Was die anderen betraf … Benjamin kannte sie nicht gut genug, um sich schon jetzt ein Bild zu machen. Abigale, Katzmann, Mikado, die Apothekerin Emily, die eine Möglichkeit gefunden hatte, Kummer und Schmerz in Alkohol zu ertränken, die junge Frederika, erneut vom Tod zurückgekehrt, der dankbare Caspar, die übrigen Männer und Frauen und wenigen Kinder, in den meisten Fällen nur Gesichter ohne Namen. Vielleicht hatte sich jeder von ihnen eine eigene kleine Nische geschaffen in dieser Stadt, die ihnen ein Leben nach dem Tod ermöglichte, sie aber auch festhielt und zu Gefangenen machte.
    Denn das war die Stadt: ein Gefängnis. Die Frage, wer es
erbaut hatte, und zu welchem Zweck, rückte hinter eine andere, wichtigere zurück, die lautete: Gab es einen Weg hinaus, in die Freiheit?
    Benjamin ging über den Bahnsteig und hob erneut die Lampe. Oben hing eine Uhr, aber auch ihr fehlten die Zeiger. Auf der rechten Seite, unter einer geplatzten Leuchtstoffröhre, endete ein Durchgang an einer Mauer, hinter der vielleicht eine Treppe nach oben führte. Nach kurzem Zögern ging Benjamin daran vorbei und bemerkte am Ende des Bahnsteigs mehrere Bündel am Boden. Er trat darauf zu. Halbvermoderte Kleidungsstücke und Decken bildeten mehrere Haufen, und dazwischen lagen Abfälle aller Art: zerknüllte Dosen, Reste von Tüten und Pappe, andere Dinge, die sich nicht mehr identifizieren ließen. Auf der linken Seite führten die Schienen durch den Tunnel und verschwanden in der Dunkelheit. Am Rand des Lichtscheins, zu beiden Seiten der Gleise, lagen Latten, Bretter, Stangen und verbeulte Tonnen an den Tunnelwänden. Benjamin sprang vom Bahnsteig auf den Schotter, ging einige Schritte und bemerkte ein Dreibein neben einer der Tonnen. Davor ragte eine rostige Eisenstange unter mehreren Brettern hervor.
    Als er sich ihr bis auf zwei Meter genähert hatte, stellte er fest, dass es keine Stange war, sondern der Lauf eines alten Maschinengewehrs, von dem der Rest fehlte, bis auf das Dreibein. Und die Bretter und Fässer … Sie waren Teil einer Barrikade gewesen, die hier einst den Tunnel blockiert hatte und später für die Draisine beiseitegeräumt worden war.
    Die Draisine ist noch da, dachte Benjamin und leuchtete in die Dunkelheit. Petrow hatte sich also zu Fuß auf den Weg gemacht — wenn er tatsächlich hierher zurückgekehrt war.
Route siebzehn, erinnerte er sich. Angeblich ein vielversprechender Weg. Vielleicht führte er aus der Stadt.
    Etwas ist dort unten. Abigales Worte kamen ihm wieder in den Sinn, als er in die Dunkelheit starrte und sich fragte, welchen Zweck die Barrikade an diesem Ort einst erfüllt hatte. Wen hatte sie schützen sollen, und wovor?
    Ein Kratzen kam aus der Finsternis.
    Plötzliche Kälte kroch über Benjamins Nacken, als er sich umdrehte und in die Richtung sah, aus der er gekommen war. Etwas glühte dort in der Dunkelheit, so schwach, dass er es nur sah, wenn er nicht direkt den Blick darauf richtete.
    Das kratzende Geräusch wiederholte sich, begleitet von einem leisen, dumpfen Quietschen.
    Ein oder zwei Sekunden lang dachte Benjamin daran, die Lampe zu löschen, aber es hätte nur bedeutet, dass er nichts mehr sehen konnte, während das, was dort durch die Schwärze kroch, ihn vielleicht noch immer wahrnahm. Er sprang hinter eine der verbeulten Tonnen, was ihm natürlich nichts nützte, denn das Licht der Lampe musste schon von weitem zu sehen sein.
    Das Kratzen und Quietschen wurde lauter, und etwas bewegte sich im Dunkeln. Umrisse schälten sich aus der Finsternis …
    Die Draisine rollte über die Schienen, mit zwei Männern am Handhebel und einem dritten, der vorn stand und mit einer Taschenlampe leuchtete.
    Benjamin atmete erleichtert auf – obgleich er ahnte, was ihn jetzt erwartete –, und trat hinter der Tonne hervor.
    »Es ist der Neue!«, rief der Mann mit der Taschenlampe. Und: »Was machst du hier unten?«

    Benjamin ging der herankommenden Draisine entgegen. Die Männer darauf kannte er nicht. Der ganz vorn war kräftig gebaut und bullig, ein Rausschmeißertyp, fand Benjamin; die anderen beiden, um die dreißig, musterten ihn neugierig.
    »Ich wollte mich hier unten nur ein

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