Die Stadt - Roman
könnte, so erwartete ihn eine Enttäuschung. Die bohrenden Fragen blieben. Dago, dachte er. Ein Mann, vor dem Louise ihn gewarnt hatte. Unberechenbar und gefährlich. Der Colt in seinem Gürtelhalfter … Vermutlich eine Imitation. Ein Nachbau. Wie sollte ein mehr als hundertsechzig Jahre alter Revolver, von dem nur tausendeinhundert Exemplare existiert hatten, in diese Stadt kommen? Und wieso hatte er die Waffe sofort erkannt und so gut über sie Bescheid gewusst?
Eine weitere Frage drängte sich ihm auf. Warum hatten es die Schatten auf ihn abgesehen?
Im Park vor dem Hotel ging jemand über einen Kiesweg und achtete darauf, in den Schatten zu bleiben. Ein Wächter. Benjamin beobachtete ihn und sah, wie er die Hand hob, wie es dicht vor dem Mund kurz aufglühte und der Mann – oder die Frau – Rauch ausstieß. Wer auch immer dort unten Wache hielt, er – oder sie – rauchte eine Zigarette.
Wie kann man heute noch rauchen?, dachte Benjamin. Obwohl jedes Kind weiß, wie schädlich das ist? Dann schüttelte
er den Kopf. Louise hat Recht, setzte er seinen inneren Monolog fort. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist uns bereits passiert. Wir sind tot. Wir sind alle tot. Und selbst wenn wir es fertigbringen, noch einmal zu sterben – wir erwachen wieder zu unserem Leben nach dem Tod.
Benjamin merkte plötzlich, dass er zitterte, und er fragte sich, ob es nur an der Kälte lag.
Petrow fiel ihm ein, der Mann, der die Expedition ins Labyrinth geleitet hatte. Abigale und Hannibal hatten darauf hingewiesen, dass gelegentlich Menschen aus der Stadt verschwanden, angeblich dann, wenn bei ihnen die Entscheidung über Gut oder Böse und damit über Himmel oder Hölle gefallen war. Aber Hannibal schien zu vermuten, dass es für Petrows Verschwinden einen anderen Grund gab, denn laut Velazquez hatte er die Anweisung erteilt, den Zugang zum Labyrinth sofort am nächsten Morgen zuzumauern.
Benjamin hatte sich schon vom Fenster abgewandt und damit begonnen, sich anzuziehen, als ihm klarwurde, dass er – in all dem Durcheinander, das noch immer in seinem Kopf herrschte – ein Ziel hatte: Er wollte sich das Labyrinth ansehen.
17
Im Treppenhaus des Hotels hörte er die leisen Klänge einer vorsichtig und sanft gespielten Geige. Er blieb stehen, ergriffen von einer Melodie, die direkt zu seinem Herzen sprach und von einem Verlust erzählte, der so schwer wog, dass er die Seele erdrückte. Die einzelnen Töne waren wie Tränen,
die jemand vergoss, der nicht getröstet werden konnte, und für einen Moment spielte Benjamin mit dem Gedanken, nach oben zu gehen und mit dem Geiger zu sprechen, den er am Abend, kurz nach seiner Rückkehr, in einer Ecke des Foyers gesehen hatte: ein schmächtiger Mann, fast so traurig wie seine Musik.
Benjamin gab sich einen Ruck und eilte die Treppe hinunter ins Foyer, wo so spät in der Nacht nur noch wenige Lampen brannten. Niemand hielt sich dort auf, und der nahe Ballsaal war ebenfalls leer.
Als Benjamin den Ausgang erreichte, verklang die Melodie der Geige, und er trat in die stille Nacht.
Sie war wirklich still . Einige Sekunden stand er reglos und lauschte einer Stille, so tief, dass sie in seinen Ohren rauschte. In der vergangenen Nacht, erst in der Gesellschaft von Louise und dann im Patrouillenwagen mit Katzmann und Mikado, war ihm nicht auf diese Weise bewusstgeworden, wie lautlos die Stadt sein konnte. Es zirpten keine Insekten. Es brummten keine Motoren. Es klapperten keine Türen und Fenster, und nirgends erklangen die Stimmen von Menschen. Diese Stille war wie Taubheit. Benjamin hob die Hand zum Ohr und schnippte mit den Fingern, um sich zu vergewissern, dass sein Gehör noch funktionierte.
Auf leisen Sohlen schlich er an der Seite des Hotels entlang und vermied es, über den Kies zu laufen, dessen Knirschen der Wächter im Park vielleicht gehört hätte.
Auf dem Parkplatz hinter dem Gloria brannten keine Lampen. Benjamin wartete an der Ecke, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Auf der anderen Seite, neben dem verbarrikadierten Zugang des Lagerhauses, aus
dem Petrow und seine Expedition gekommen waren, bewegte sich etwas: eine Silhouette, ein Schatten innerhalb von Schatten, in Gestalt eines Menschen. Ein Wächter, dachte Benjamin. Hannibal lässt den Eingang bewachen.
Er beschloss, einen Umweg zu machen, huschte an der Rückseite des Hotels entlang und verharrte kurz hinter großen Blumenkübeln, die nur nackte Erde enthielten, nicht einen Grashalm,
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