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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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wenig umsehen«, sagte Benjamin. Er vermutete, dass der Wächter das lose Brett bemerkt und Hannibal benachrichtigt hatte.
    Die Draisine hielt an, und die beiden Männer am Hebel zogen ihn hoch. Der dritte Mann richtete einen finsteren Blick auf ihn. »Es ist streng verboten, das Labyrinth aufzusuchen! «, brummte er.
    Benjamin hatte solche Typen noch nie ausstehen können. »Und warum?«
    »Es ist verboten!«, wiederholte der Mann, als sei das Erklärung genug. »Wir sollen dich zu Hannibal bringen.« Er nickte den beiden anderen Männern zu, die daraufhin wieder den Hebel betätigten. Quietschend setzte sich die Draisine in Bewegung und rollte dem Ende des Tunnels und der Treppe entgegen, die dort nach oben führte.
    »Ich frage mich, was er von mir will«, sagte Benjamin mit leisem Spott und spürte, wie Ärger in ihm zu rumoren begann.
    »Du kannst von Glück sagen, wenn du bei uns bleiben darfst!«
    Wäre das tatsächlich Glück?, dachte Benjamin und sah zurück in den dunklen Tunnel. Irgendwo dort in der Finsternis gab es verschiedene Routen; eine trug die Nummer siebzehn und führte vielleicht aus der Stadt.

18
    »Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte Hannibal. Er stand hinter dem Schreibtisch am Fenster seines Büros, in dem er Benjamin in der ersten Nacht begrüßt hatte. Jonas saß wieder an dem pultartigen Tisch in der Ecke und wartete, den Stift dicht über dem Papier des großen aufgeschlagenen Buchs. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern blickten aufmerksam und erwartungsvoll.
    »Was ich mir dabei gedacht habe?« Louises mahnende Worte fielen Benjamin ein. Es wäre zweifellos vernünftig gewesen, ruhig zu bleiben und zu vermeiden, irgendeinen Standpunkt zu beziehen, bevor er nicht mehr über die Stadt und ihre Bewohner herausgefunden hatte, aber Hannibals Verhalten ging ihm plötzlich ganz gehörig gegen den Strich. »Ist dies deine Stadt? Wer hat dich zu ihrem Bürgermeister gewählt? Haben Louise und die anderen, die nicht zur Gemeinschaft gehören, ebenfalls ihre Stimme abgegeben? Und was ist mit Dago und seinen Leuten?«
    Hannibal hatte nach draußen in die Nacht geblickt. Jetzt drehte er sich um, nahm Platz und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch, dicht unter einer dort liegenden Aktenmappe. Jonas’ Stift kratzte übers Papier.
    »Du bist neu bei uns«, sagte Hannibal. »Du musst erst noch einen Platz in unserer Gemeinschaft finden, und vielleicht hast du deinen ersten Tod noch nicht ganz verwunden. Das halte ich dir zugute. Andernfalls würde ich dich jetzt sofort hinauswerfen.«
    Benjamin konnte die Worte nicht zurückhalten; sie sprangen ihm von der Zunge. »Wer gibt dir das Recht …«

    Hannibal hob die Hand. »Achtzig Jahre«, sagte er. »Achtzig Jahre geben mir das Recht. Ich habe die Gemeinschaft aufgebaut und in diesem Teil der Stadt für Ordnung gesorgt. Ich habe verhindert, dass sich Dagos Wahnsinn überall ausbreitet und allen die Chance auf das Paradies nimmt. Ich habe den Menschen hier Hoffnung gegeben. Und wenn sie diese Hoffnung behalten sollen, müssen Regeln beachtet werden, die …«
    »Die du bestimmst, nicht wahr?« Das Brodeln in Benjamin dauerte an, hielt die Zunge in Bewegung. Er sah kurz zu Jonas, der voller Eifer schrieb. Das ist seine Welt, dachte er. Seine kleine Nische. Er sitzt da und schreibt auf, was er hört, und damit ist er zufrieden. Was erhofft sich jemand wie er vom Paradies? Stifte, die nie angespitzt werden müssen? Kugelschreiber, deren Tinte nie ausgeht? Jede Menge leere Blätter, die er mit Worten füllen kann?
    Und Hannibal? Benjamin blickte dem kahlköpfigen, hageren Mann in die Augen, und für einen Moment gelang es ihm, hinter die charismatische Maske zu sehen und zu erkennen, was sich dort befand: jemand, der es in seinem Leben nach dem Tod zu Macht und Einfluss gebracht hatte. Und jemand, der seine Macht verlieren würde, wenn die Menschen einen Weg aus der Stadt fanden.
    Plötzliche Ruhe überkam ihn, als er Hannibals innere Triebfeder zu verstehen begann. Vielleicht glaubte er an die Sache mit dem Limbus, vielleicht auch nicht. Ganz sicher aber glaubte er an sich als Oberhaupt der Gemeinschaft, an sein kleines Königreich, das er sich in den vergangenen acht Jahrzehnten geschaffen hatte. Darum war es eine »Sünde«, darüber zu sprechen, die Stadt zu verlassen. Oder im Labyrinth
nach einem Weg zu suchen, der hinausführt. Es grenzte an Majestätsbeleidigung.
    »Jede Zivilisation braucht ihre Regeln«, sagte Hannibal. »Für uns

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