Die Stadt - Roman
das Zimmer, in dem eine Hoffnung gestorben war, kehrte auf die Straße zurück und begann mit einer wachsamen Wanderung durch die Stadt. Schatten begegnete er nicht, und Menschen ebenso wenig. Stille begleitete ihn, und ein Wind, der erstaunlich kalt war und von dem er in der anderen Welt geglaubt hätte, dass er Schnee ankündigte. Die Dunkelheit des Abends half ihm bei der Suche nach dem Hotel Gloria, dessen Lichter glücklicherweise schon von weitem zu sehen waren.
Diesmal erklang keine Musik aus geöffneten Fenstern des Hotels, und als Benjamin müde und hungrig das Foyer betrat, kam ihm Velazquez entgegen. Er war noch recht blass und zog aus irgendeinem Grund das eine Bein nach, aber ansonsten schien er sich recht gut vom Tod erholt zu haben.
»Da bist du ja!«, sagte er. »Wir haben dich überall gesucht! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt, Mann? Weißt du schon das Neueste?«
»Nein.«
»Petrow ist verschwunden!«
Das Labyrinth
16
Benjamin schreckte mitten in der Nacht aus dem Schlaf, davon überzeugt, eine Stimme gehört zu haben, doch aus dem Nebenzimmer, dessen Tür einen Spaltbreit offen stand, kam nur leises Schnarchen – Velazquez schlief tief und fest. In der Luft hing der Geruch von Farben und Terpentin, obwohl die Staffelei im anderen Raum stand und kühle Luft durchs halb offene Fenster wehte. Draußen brannte noch immer Licht, aber es erklangen keine Stimmen.
In Dunkelheit und Stille lag er da, lauschte in die Nacht und hörte vor allem die eigenen Gedanken, die ihm laut durch den Kopf zogen; bei manchen hatte er das Gefühl, sie würden von einem anderen stammen. Was geschieht mit mir ? , fragte er sich, während kühle Luft sein Gesicht erreichte und den Terpentingeruch erträglicher machte. Die Enttäuschung darüber, Kattrins Gestalt offenbar halluziniert zu haben, hatte sich schon abgeschwächt, bevor er zu Bett gegangen war, und jetzt verflüchtigten sich diese Eindrücke wie die vagen Bilder eines Traums, den man nicht festhalten konnte. Er versuchte, sich an Kattrins Gesicht zu erinnern, und merkte, wie schwer ihm das fiel. Andere Erinnerungen ließen sich leichter abrufen: ihre Aussprache, der Beschluss, mit gemeinsamen
Anstrengungen ein neues Leben zu beginnen, das Gefühl, ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zur Zufriedenheit überwunden zu haben, die Entschlossenheit, den neuen Weg konsequent zu beschreiten. Aber der neue Weg hatte sie, nur einen Tag später, direkt in den Tod geführt. Der Lastwagen, der die Leitplanke durchbrach, das Krachen …
Benjamin schloss die Augen. War es wirklich so geschehen?, fragte einer der Gedanken, die sich fremd anfühlten. War er auf diese Weise gestorben, und Kattrin mit ihm? Oder hatte ihn der Mann mit der Pistole erschossen? Woher stammte jenes Bild? Er konzentrierte sich darauf, sah den Finger, der sich wie in Zeitlupe um den Abzug krümmte, und hob den Blick zum Gesicht: ein Mann Mitte dreißig, mit dunklen Augen, die Wangen irgendwie … wellig, das Kinn spitz, am Hals eine seltsame Narbe …
Seine Lider zuckten nach oben, und Benjamin sah die wechselnden Muster, die das Licht der Lampen vor dem Hotel und die vom leichten Wind bewegten Gardinen an der Zimmerdecke schufen. Dago?, dachte er. Und das Meer, in dem er schwamm, bis seine Kräfte erlahmten und er ertrank? Und der Dachrand des hohen Gebäudes?
Etwas kratzte an seinen Gewissheiten und stellte sie infrage. Der Tod war ein Dieb — was hatte er ihm gestohlen? Das Wissen um die Arbeit, der er zu Lebzeiten nachgegangen war? Sie hatte eine große Rolle für ihn gespielt und in seinem Leben einen so dominierenden Platz eingenommen, dass seine Ehe in Gefahr geraten war. Aber konnte man tatsächlich etwas vergessen, das einen großen Teil des eigenen Lebens bestimmt hatte? Verlor man dadurch nicht einen großen Teil seiner selbst? Was war ihm so wichtig gewesen, dass Kattrin
einen verzweifelten Appell an ihn gerichtet hatte? Ihre Worte klangen ihm noch immer in den Ohren: Wir müssen unser Leben jetzt leben, Ben. Wir haben nur dieses eine.
Wach auf, Ben, dachte er. Wach endlich auf.
Aber das war keine Lösung, denn er schlief nicht.
Etwas in ihm war in Bewegung geraten, so träge wie die Gezeiten, aber mit dem Gewicht eines ganzen Meeres dahinter.
Benjamin schlug die Decke zurück, stand auf und trat zum Fenster, nur mit einem Slip bekleidet. Kalte Luft strich ihm über die Haut, doch wenn er gehofft hatte, dass sie Klarheit bringen und ihm allen Ballast aus dem Kopf fegen
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