Die Stadt - Roman
verteilt, wenn die Anschlagtafel die Stadt darstellte.
»Die Unabhängigen«, antwortete Hannibal und steckte
die graue Nadel zu den grünen. »Sie haben ihre Chance noch nicht genutzt.«
»Und was ist mit der Nadel? Die rote dort.« Sie steckte abseits aller anderen in der Tafel.
»Das ist Laurentius. Er nimmt eine Sonderstellung ein.«
»All diese Menschen …«, sagte Benjamin langsam. »Sie wollen einfach nur leben. Und das könnten sie, mit Zugang zum Supermarkt.« Ein langer Schritt brachte ihn an Hannibal vorbei, und mit der Hand stieß er einige der grünen Nadeln von der Tafel. »Es sind Menschen , Hannibal, keine Stecknadeln.«
Sie standen sich gegenüber, kaum einen halben Meter voneinander getrennt. Benjamin sah Hannibal in die Augen und versuchte in ihnen Gedanken und Regungen zu erkennen, doch sie verrieten nichts. Was auch immer dieser kahlköpfige Mann mit der schiefen Nase und den komplexen Faltenmustern in Mund- und Augenwinkeln dachte und fühlte, es blieb hinter einer Fassade aus unerschütterlicher Ruhe verborgen.
»Ich habe eine andere Stadt gesehen«, sagte Benjamin. »Heute Morgen, kurz vor Sonnenaufgang. Als der Nebel ganz weit zurückgewichen war. Ich habe eine andere Stadt gesehen. Voller Lichter. Bewohnt.«
»Du hast gar nichts gesehen, Benjamin.«
»Das passt dir nicht ins Konzept, wie? Ebenso wenig wie das Labyrinth und die Route siebzehn, die Petrow gefunden hat. Um deine Macht zu erhalten und dein kleines Königreich zu bewahren, behauptest du seit vielen Jahren, dass es da draußen nichts gibt und dass man die Stadt nicht verlassen kann. Beides ist falsch. Es gibt etwas da draußen, und man kann diese Stadt verlassen. Ich werde es beweisen.«
»Gar nichts wirst du, außer schweigen.« Hannibals Stimme war plötzlich kalt.
Benjamin sah ihm noch immer in die Augen. »Ist das eine Drohung?«
»Es ist eine letzte Chance für dich. Die allerletzte. Was du gesehen hast, war … ein Trugbild. Geschaffen von zu viel Alkohol und vielleicht deinen Wünschen. Die anderen haben nichts gesehen.«
»Katzmann hat dir auch davon erzählt, ja? Ein sehr gesprächiger Bursche, dieser Katzmann.«
»Du hast es seiner Fürsprache zu verdanken, dass ich dir trotz allem eine Chance gebe. Vergiss, was du gesehen hast oder gesehen zu haben glaubst. Sprich mit niemandem darüber. Schaff keine Unruhe. Versprich es mir, und versprich, dass du dich in Zukunft an die Regeln hältst. Dann darfst du in der Gemeinschaft bleiben.«
Der Zorn wich aus Benjamin, als er begriff: Nicht er war in die Ecke gedrängt, sondern Hannibal.
»Du willst mich kaufen«, sagte er. »Du willst dir mein Schweigen kaufen. Die Gemeinschaft soll nichts von der anderen Stadt erfahren. Damit niemand an deiner Macht rüttelt. Damit niemand auf den Gedanken kommt, von hier wegzugehen. Denn was sollte dann aus dir werden, Hannibal? Daran denkst du vor allem: an dich selbst!«
Hannibal atmete tief durch. »Du willst einfach nicht vernünftig werden, oder?«
»Vernunft ist, über das eigene Wohl hinaus zu denken«, sagte Benjamin. Er zögerte kurz und überlegte. Vielleicht war dies eine gute Gelegenheit. »Ich mache dir einen Vorschlag. Öffne den Supermarkt für alle, und ich sage niemandem,
was ich heute Morgen kurz vor Sonnenaufgang gesehen habe.«
Einige Sekunden lang war nur das Rauschen des Regens zu hören. Dann sagte Hannibal:
»Ich habe bis zum Schluss gehofft, dass du ein Einsehen haben würdest, aber offenbar bist du unverbesserlich.« Er nahm die graue Nadel mit dem B und dem Punkt von den grünen fort und steckte sie in die Nähe der schwarzen. »Wie dumm von dir, Benjamin. Wie dumm.«
»Ich bin draußen, stimmt’s?«
»Du lässt mir keine Wahl. Die Gemeinschaft muss vor Leuten wie dir geschützt werden.«
»Du willst nicht die Gemeinschaft schützen, sondern ihre Unwissenheit«, sagte Benjamin. »Die alte Leier. Wer unangenehme Fragen stellt und mehr weiß, als er wissen soll, ist den Mächtigen immer suspekt. In der menschlichen Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele dafür, und hier wiederholt es sich. Weißt du, Hannibal, wenn du Recht haben solltest, wenn dies wirklich ein Limbus ist, in dem über Himmel oder Hölle für die Menschen hier entschieden werden soll … Dann bist du vielleicht das größte Hindernis auf dem Weg zum Paradies.«
Hannibals Gesicht verriet noch immer nichts, aber in seiner Schläfe pulsierte eine Ader. »Hol deine Sachen und verlass das Hotel. Auf der Stelle. Ich will dich hier
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