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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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schulterlangem, blondem Haar, vermutlich Katzmann. Die Kapuze des Parkas tief in die Stirn gezogen, wich Benjamin einer großen Pfütze aus und fragte sich, ob er Katzmann zur Rede stellen oder ihn wenigstens um eine bestimmte Information bitten sollte. Dann bemerkte er eine Bewegung hinter dem Fenster des nahen Geräteschuppens, machte drei schnelle Schritte über den Kies und öffnete die Tür. Der kleine Mikado stand dort und hantierte mit Werkzeugen. Sein Walkie-Talkie lag auf dem nahen Tisch.
    »Ich hätte es nicht aus der Hand geben sollen«, klagte er. »Die Batterie ist leer. Velazquez hat vergessen, es auszuschalten. Denkt nur an seine Bilder, an nichts anderes.«
    Draußen hupte Katzmann.
    »Ja, ja, ich komme.« Mikado nahm das Funkgerät und eine Ersatzbatterie, sah dann Benjamin an, mit einer Mischung aus Verlegenheit und Mitgefühl. »Ich weiß, dass Hannibal dich rausgeschmissen hat. Tut mir echt leid für dich. Hast du ein bestimmtes Ziel? Können wir dich mitnehmen?«

    »Entschuldige, aber ich möchte nicht mit Katzmann im Auto sitzen.«
    »Er hat es bestimmt nicht böse gemeint.«
    »Klar, hier meinen es alle gut. Ich wollte dich nur um eine Information bitten. Kannst du mir den Weg zur Tulpenstraße beschreiben?«
    »Zur Tulpenstraße?« Katzmann hupte erneut, und Mikado beschrieb mit raschen Worten den Weg, klopfte Benjamin dann kurz auf die Schulter und lief hinaus. Durchs Fenster sah Benjamin, wie sich die Beifahrertür öffnete und wieder schloss, und dann fuhr der Patrouillenwagen los.
    Benjamin ließ die Tür des Geräteschuppens hinter sich zufallen, stapfte durch den Regen und fühlte sich ohne das Adrenalin des Zorns wie ein Narr. Er hätte einfach nur still sein müssen, und alles wäre nach ein paar Minuten überstanden gewesen. Er hätte Louise helfen können, indem er ihr Proviant aus dem Supermarkt brachte. Doch jetzt war er selbst ein Ausgestoßener, ohne Zugang zu den Regalen, die sich nicht leerten, ohne eine Bleibe, ein Fremder in einer Stadt, die er nicht kannte.
    Warum musstest du unbedingt die Klappe aufreißen?, dachte er, während er durch den strömenden Regen ging, der auf die Straße prasselte, im Rinnstein rauschte und in den Abflüssen gurgelte. Er versuchte nicht mehr, den Pfützen auszuweichen, stapfte mitten hindurch und hatte nach kurzer Zeit nasse Füße. Wieso verhältst du dich wie ein Idiot, Benjamin Harthman?, fragte er sich und lauschte dem geistigen Echo des Namens, als wollte er sich vergewissern, dass es wirklich der seine war. Er fühlte sich richtig an und war mit zahlreichen Erinnerungen an sein Leben verbunden, aber
manche Farben dieser Erinnerungen trübten sich, und an einigen Stellen gab es Lücken, wie in einem unfertigen Bild. Und der Zweifel lag inzwischen immer auf der Lauer, dazu bereit, alle Gewissheiten infrage zu stellen. So hielt er sich selbst für einen vernünftigen, rationalen Mann, doch seine Reaktionen auf Hannibals monokratisches Gebaren wiesen auf jemanden hin, der sich kaum unter Kontrolle hatte und vielleicht sogar zu Jähzorn neigte. Doch Arroganz, Anmaßung und Ungerechtigkeit gingen ihm entschieden gegen den Strich, und Hannibal vereinte diese drei Eigenschaften in sich. Es gibt gewiss nichts dagegen einzuwenden, für das Richtige einzutreten, aber warum den falschen Zeitpunkt dafür wählen? Warum sich selbst schaden, ohne dass sich etwas an der Situation änderte?
    An der Kreuzung, die Mikado ihm beschrieben hatte, blieb Benjamin unter einem Vordach stehen und merkte, dass der Regen einen Weg durch das Schussloch im rechten Ärmel des Parkas gefunden hatte. Die Kugel war ihm in den Arm gedrungen und hatte ihn nicht getötet, aber seltsamerweise erinnerte ihn das Loch deutlich an seinen Tod, als stünde es in direktem Zusammenhang damit. Es rief ihm zu: Du bist tot, Benjamin, und als Toter lebst du in einer Stadt, die auf ihre eigene Art und Weise lebt. Kein Wunder, dass du glaubst, dich verändert zu haben. Wer würde sich unter solchen Umständen nicht verändern? Wahrscheinlich stehst du noch immer unter Schock.
    Aber als er den Weg zur Tulpenstraße fortsetzte, vorbei an dem Gebäude mit der schwarzen Glasfront, das im Regen wie ein eingefangenes Stück Nacht wirkte, und über den kleinen runden Platz mit dem leeren Denkmalsockel in der
Mitte, ahnte Benjamin, dass Schock allein nicht als Erklärung genügte. Etwas in ihm war in Bewegung, etwas, das er noch nicht verstand, und vielleicht lag dort der Grund, warum er sich

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