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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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gegen Hannibal aufgelehnt hatte. Denn eigentlich galt die Auflehnung gar nicht ihm, sondern der Stadt. Deshalb hatte er sich des Nachts ins Labyrinth geschlichen, auf der Suche nach Route siebzehn und einem Weg aus der Stadt. Deshalb interessierte ihn alles, was einen Hinweis auf einen Weg aus der Stadt liefern konnte. Deshalb hätte er gar nicht darauf verzichten können, immer wieder danach zu fragen.
    Erneut blieb Benjamin stehen, aber diesmal mitten auf der Straße, im strömenden Regen. Ruhe kam aus dem Nichts, wie schon zweimal zuvor, und wie in den beiden anderen Fällen geschaffen von einer plötzlichen Erkenntnis: Er musste dem Rätsel der Stadt auf den Grund gehen, denn es war die einzige Möglichkeit, sich selbst zu verstehen und eine Antwort auf die Frage zu finden: Wieso lebte er noch, nach seinem Tod?
    Deshalb bin ich hier, dachte er. Um einen Weg hinaus zu finden.
    Jeder einzelne Regentropfen, der ihm auf den Kopf fiel und ihm ins nasse Gesicht klatschte, bestätigte diesen Gedanken, und einige Sekunden lang gab sich Benjamin dem wohligen, die Seele wärmenden Gefühl hin, ein Auserwählter zu sein, jemand, der in die Stadt geschickt worden war, um ihr Geheimnis zu lüften und die Menschen, die es hierher verschlagen hatte, zu befreien.
    Dann dachte er: So ein Quatsch! Menschenskind, Benjamin, wenn du in diese Richtung weiterdenkst, wird ein zweiter Hannibal aus dir. So leicht kann man hier durchdrehen.

    Nein, es gab keinen Auserwählten, der dazu bestimmt war, das Licht zu finden und es allen anderen zu zeigen. Es gab nur die Stadt und Menschen, die nach ihrem Tod hier erwacht waren und versuchten so gut wie möglich in ihr zu leben, die eine Hälfte mit dem Supermarkt, die andere ohne.
    Benjamin ging durch den Regen weiter.
    Aber ich habe Licht gesehen, dachte er. Und nicht nur eins. Ich habe viele Lichter gesehen. Es gibt eine andere Stadt.

    Es war ein blaues Schild mit weißer Schrift, regennass und an den Rändern von Rost zerfressen. Aber nur an den Rändern – das Wort »Tulpenstraße«, aus vertrauten Buchstaben geformt, war noch gut zu erkennen, nach all den Jahren. Nach wie vielen Jahren?, überlegte Benjamin, während er im langsam nachlassenden Regen stand und zu dem Schild hochsah. Es hatte schon einmal Menschen in der Stadt gegeben, hatte Abigale beim Gespräch mit Hannibal im Hospital gesagt, noch vor Laurentius, und der befand sich seit fast zweihundert Jahren in der Stadt. Die Straßen und Gebäude waren also mindestens zwei Jahrhunderte alt, wiesen aber nur geringe Anzeichen von Erosion und Verfall auf. Mehr als zweihundert Jahre … Zeit genug, um Unkraut meterhoch aus den Rissen im Asphalt sprießen und die kleineren Gebäude unter Bäumen und Büschen verschwinden zu lassen. Doch es standen noch alle Häuser, die großen wie die kleinen, und die meisten Fenster waren heil. Die Stadt lebt, dachte Benjamin, obgleich er noch immer keine klare Vorstellung von der Art dieses Lebens hatte. Vielleicht wächst sie nicht nur, sondern erneuert sich auch, wo sie es für nötig hält. Wir stecken in einem riesigen Organismus, dessen Komplexität
wir nicht verstehen. Wir sind wie Mikroben darin, und die Schatten … Die Schatten sind wie Antikörper, die uns zu ergreifen versuchen und es insbesondere auf mich abgesehen haben. Vielleicht weil ich eine besonders gefährliche oder unangenehme Mikrobe bin?
    Benjamin verzog das Gesicht, das ebenso nass war wie das Schild. Du phantasierst, mein Junge. Du lässt die inneren Zügel schießen. Die Schatten wie Antikörper. So ein Quatsch. Reiß dich zusammen, Mann!
    »Die Dinge gibt es nur, weil ihre Schatten da sind«, murmelte er. Es waren nicht seine eigenen Worte; sie stammten aus einem Buch, das er vor vielen Jahren gelesen hatte. Er erinnerte sich daran, lange über sie nachgedacht zu haben, über ihre tiefere Bedeutung, und jetzt senkte er den Blick, suchte nach seinem Schatten und fand ihn nicht im Regen. Der Regen hat ihn weggewaschen, dachte er und fühlte, wie die eigenen Gedanken eine sonderbare Faszination auf ihn ausübten. Ich habe keinen Schatten mehr, und deshalb gibt es mich eigentlich gar nicht.
    »Du bist nur noch zwei Gedanken vom Wahnsinn entfernt«, knurrte er und zwang sich zu einem Schritt, der ihn mitten in eine große Pfütze führte. »Wahnsinn wühlt in meinen Sinnen«, erinnerte er sich an Worte aus einem anderen Buch. »Und mein Herz ist krank und wund.« Er sah nach unten und stellte fest, dass er noch immer in der

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