Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
Tür. »Was soll ich mit dir machen?«
    »Du?«, fragte Benjamin.
    Hannibal breitete die Arme aus. »Wir. Die Gemeinschaft. All die Menschen, die sich das Paradies erhoffen. Die jeden Tag aufs Neue ihren Teil leisten, damit das Gewicht des Guten auf der Waage dominiert und sich die Pforten des Limbus auf der Seite des Himmels für uns öffnen.«
    »Das Gewicht des Guten auf der himmlischen Waage.« Benjamin schüttelte den Kopf. »Es fiel mir schon zu Lebzeiten schwer, an derartigen Unsinn zu glauben. Als Toter weiß ich mit quasireligiösem Unsinn erst recht nichts anzufangen.«
    »Oh, ein Jünger der Rationalität«, sagte Hannibal. »Ein Anhänger der kühlen Vernunft. Vielleicht gar ein Mann der Wissenschaft wie Kowalski? Jemand, der glaubt, alles erklären zu können, wenn er nur genau genug misst?«
    »Kowalski ist verrückt.«
    »Und du, Benjamin? Bist du ebenfalls verrückt? Ist das die Erklärung für dein Verhalten? Bist du deshalb so zornig, ohne recht zu wissen, warum?«
    »Ich weiß sehr genau, warum ich zornig bin!« Hannibals Ruhe schürte das Feuer in Benjamin. »Du hast Louise die Sachen weggenommen, die sie dringend braucht! Warum hast du sie hinausgeworfen? Weil sie zu viele unangenehme Fragen stellte?«
    »Und weil sie eine Selbstmörderin ist.«
    Benjamin sah Hannibal groß an. »Was?«
    »Du hast richtig gehört. Selbstmord hat sie hierhergebracht. Das fanden wir erst später heraus. Sie behauptete zuerst,
einem Unfall zum Opfer gefallen zu sein. Selbstmördern bleibt das Paradies verwehrt.«
    Benjamin glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. »Das ist hirnverbrannter katholischer Fundamentalismus!«
    »Es ist Pragmatismus, Benjamin. Ich bin für dreihundert Menschen verantwortlich, die den Garten Eden erreichen wollen. Meine Aufgabe besteht darin, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen.« Hannibal deutete auf die Tafel. »Die vielen grünen Nadeln in der Mitte, das sind wir, die Gemeinschaft. Siehst du?« Er trat am Pult vorbei, nahm eine Nadel und las den Namen auf dem kleinen Schild. »Die alte Juanita. Starb mit fünfundsiebzig in Buenos Aires, als jemand versuchte, ihr die Handtasche zu stehlen. Sie stürzte, schlug mit dem Kopf aufs Pflaster, und zu Ende war ihr Leben.« Hannibal betrachtete die Nadel nachdenklich und steckte sie dann zurück. »Sie ist fast so lange hier wie ich und kennt die Anfänge der Gemeinschaft. Seit mehr als sieben Jahrzehnten wartet sie darauf, dass wir den Limbus verlassen können, dass wir genug Gutes getan haben, um das Böse in unserem Leben auszugleichen und die Pforte zum Paradies zu öffnen.«
    »Hältst du es für gut, Menschen wie Louise, die Hilfe brauchen, einfach wegzuschicken, obwohl du weißt, wie schwer sie es ohne den Zugang zum Supermarkt haben werden?«
    »Die Regeln geben uns Halt, Benjamin. Sie weisen uns den Weg und müssen beachtet werden.«
    »Du hast die Wahrheit nicht für dich gepachtet, Hannibal. Vielleicht irrst du dich. Vielleicht ist alles, woran du glaubst, genau der Unsinn, für den ich ihn halte. Was dann? Hast du jemals darüber nachgedacht? Wer hat dann Schuld auf sich
geladen? Menschen wie Louise, die so dreist waren, dir unangenehme Fragen zu stellen, oder du, der du ihnen die Möglichkeit vorenthalten hast, ein einigermaßen sorgenfreies Leben zu führen?«
    »Ich bin fast achtzig Jahre in der Stadt, Benjamin, und du erst seit ein paar Tagen. Aus welchem Mund spricht hier Hybris? Wer von uns beiden kann besser über Sinn und Unsinn urteilen?« Er griff nach einer der grauen Nadeln, die unweit der vielen grünen im weichen Holz der Anschlagtafel steckten. Auf ihrem Namensschild stand ein B mit einem Punkt. »Das ist deine Nadel, Benjamin. Eine der Unentschiedenen. Wohin soll ich sie stecken? Hierher, in die Mitte, zu den grünen, oder besser dorthin, zu den schwarzen?« Er zeigte auf die schwarzen Nadeln, die auf dem Rest der Anschlagtafel verstreut waren.
    Ich bin nur ein B mit einem Punkt für ihn, dachte Benjamin. Und ich bin grau wie der Nebel.
    Worte fielen ihm ein, gesungen auf Norwegisch, hatte Louise gesagt.
    »Groß stand da Sankt Michael, und wog auf seiner Waage, wog die Seelen Christus zu, dass er die Sünder trage«, murmelte Benjamin.
    »Wie bitte?«, fragte Hannibal und hielt noch immer die graue Stecknadel in der Hand.
    »Schon gut. Ich nehme an, die schwarzen Nadeln sind die Streuner, nicht wahr? Und die gelben?«
    Sie waren nicht so zahlreich. Einige Dutzend, schätzte Benjamin. Über die Stadt

Weitere Kostenlose Bücher