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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Pfütze stand. Ein weiterer Schritt brachte ihn aus ihr heraus.
    Vor ihm glänzte das Kopfsteinpflaster der schmalen Tulpenstraße im Regen, und zu beiden Seiten tropfte es aus löchrigen Regenrinnen. Zwei- und dreistöckige Häuser mit Giebeldächern lehnten aneinander, in den Erdgeschossen leere
Läden und Cafés, an deren Tischen niemand saß. Die Etagen darüber bargen Wohnungen, aber so sehr Benjamin auch den Hals reckte: Er sah nirgends Licht hinter einem Fenster oder einen anderen Hinweis darauf, dass hier jemand wohnte. Die Straße war einige Hundert Meter lang; wie sollte er Louise hier finden? Indem er alle Wohnungen absuchte?
    Benjamin formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief: »Louise!«
    Der Ruf verklang, ohne dass jemand antwortete, und wieder war nur das Prasseln des Regens zu hören. Benjamin trat zur linken Seite der Straße, ging über den Bürgersteig, vorbei an leeren Schaufenstern, und blieb an einer trockenen Stelle unter einem breiten Vordach stehen. Seine nassen Fußabdrücke auf dem schmalen Betonstreifen brachten ihn auf eine Idee. Louise war ebenfalls durch den Regen gegangen, und wenn sie eins dieser Häuser betreten hatte, so mussten Spuren zurückgeblieben sein, nasse Stellen, Abdrücke wie die seinen.
    Er begann sofort mit der Suche, hielt in jedem Hauseingang nach kleinen Pfützen Ausschau, zurückgelassen von Füßen und nasser Kleidung. Eine Viertelstunde später, als nur noch vereinzelte Regentropfen fielen und sich Stille auszubreiten begann, nur unterbrochen vom Gluckern in den Abflüssen, wurde er fündig. Neben einem verwaisten Friseursalon, an dessen Fenster ein lächelndes Frauengesicht eine zu früheren Zeiten wohl modische Frisur präsentierte, stand eine schmale Tür halb offen, und als er sie ganz öffnete, sah er die Nässe von Fußspuren.
    Benjamin betrat den Flur, in dem es selbst dann recht düster blieb, als er die Tür ganz öffnete. Er überlegte, ob er erneut
rufen sollte, entschied sich aber dagegen – immerhin wusste er nicht, von wem die Fußspuren stammten. Er folgte ihnen zu einer Treppe aus altem Holz, das unter seinen Schritten knarrte. Benjamin ging dicht an der Wand, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und sah nach oben. Die Fenster an den Treppenabsätzen trugen eine dicke Kruste aus Staub und Schmutz, und draußen blieb die falsche Sonne noch immer hinter dichten Wolken verborgen – die Schatten im Treppenhaus gaben kaum etwas preis.
    Er hatte fast den ersten Stock erreicht, als er sich plötzlich an die Warnfalle im Wolkenkratzer erinnerte und genau hinsah, bevor er den Fuß auf die nächste Stufe setzte. Die nassen Abdrücke führten weiter nach oben, in den zweiten Stock, und er folgte ihnen, noch wachsamer als zuvor. Kurz vor der zweiten Etage standen drei leere Blumentöpfe auf den letzten Stufen, direkt an der Wand, so dass jemand, der die Treppe heraufkam, gezwungen war, auf die Mitte der betreffenden Stufen zu treten. Benjamin zögerte und sah sich die Blumentöpfe aus der Nähe an. Sie enthielten dunkle Erde, fein wie Sand, und nichts schien an ihnen befestigt zu sein. Aber vielleicht befand sich etwas unter ihnen, ein verborgener Auslöser für irgendetwas, und möglicherweise wurde dieser Auslöser aktiv, wenn er die Töpfe bewegte.
    Benjamin richtete sich auf und setzte den Fuß auf die Mitte der nächsten Stufe, genau dorthin, wo sich die feuchten Flecken der Fußspur befanden. Nichts geschah. Er zögerte, den Fuß über der nächsten Stufe, setzte ihn dann auf die übernächste, die letzte.
    Ihr Holz knarrte und gab ein wenig unter ihm nach.
    Eine Sekunde später sauste ein Besenstiel aus der Dunkelheit
heran und traf ihn an der Stirn. Er kippte nach hinten, drehte sich zur Seite, prallte mit ausgestreckten Armen auf die Treppe, rollte die Stufen hinab und blieb verwirrt, benommen und voller Schmerzen auf dem Treppenabsatz liegen.
    Von oben kam das Geräusch eiliger Schritte, und das Licht einer Taschenlampe fand ihn.
    »Benjamin!«
    »Louise?«, krächzte Benjamin.

27
    »Du kannst von Glück sagen, dass du dir nichts gebrochen hast«, sagte Louise. »Die Heilung dauert hier viel länger als im Hospital.«
    Benjamin streckte die Hände dem Feuer im Kamin entgegen. »Du hast eine seltsame Art, Besucher zu empfangen.« Er hatte sich eine alte, kratzige Decke um die Schultern geschlungen. Seine nassen Sachen hingen an einer Leine draußen auf dem Balkon, hinter der Brüstung, damit man sie von der Straße nicht

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