Die Stadt - Roman
sah. Allerdings … Der Widerschein des Feuers konnte einem aufmerksamen Beobachter wohl kaum entgehen.
»Viel hat dir Abigale nicht mitgegeben, nur ein paar Büchsen, Streichhölzer und einen Kamm. Als bräuchte man hier einen Kamm zum Überleben.« Louise legte Benjamins Rucksack beiseite, nachdem sie ihm zwei Büchsen entnommen hatte. Sie stellte sie auf den umgedrehten Karton, der als
Tisch diente. »Ach, Ben, du hättest auf mich hören sollen. Das Leben mit dem Supermarkt ist weitaus einfacher.«
»Früher oder später wäre ich ohnehin mit Hannibal aneinandergeraten.«
»Ich fürchte, du weißt noch immer nicht, worauf du dich eingelassen hast«, sagte Louise leise. Sie öffnete die Büchsen und gab ihren Inhalt in einen Topf, den sie auf einen kleinen Gaskocher stellte. »Mein letztes Gas. Es reicht gerade noch, um diese Suppe zu erwärmen. Ein Festmahl wie gestern Abend wird’s nicht, so viel steht fest.«
Benjamin hielt die Hände dem Feuer entgegengestreckt, als er den Kopf drehte. »Und wie geht’s dann weiter?«
Louise saß auf einem wackligen Stuhl, der leise knarrte, wenn sie sich bewegte, wie die Stufen der Treppe. Hinter ihr lag eine alte, an mehreren Stelle aufgerissene Matratze auf dem Boden, darauf mehrere Decken – ihr Bett.
»Keine Ahnung.«
»Hast du überhaupt nichts mehr?«
»So gut wie nichts. Es befand sich alles in meiner Hauptwohnung beim Kanal, auch die Sachen vom letzten Einkauf. Ich wollte sie auf meine anderen Quartiere verteilen, aber dazu kam ich nicht mehr. Dagos Leute haben sich alles unter den Nagel gerissen. Verdammte Jasmin!« Sie ballte die Fäuste. »Wenn ich nur besser aufgepasst hätte!«
Benjamin starrte ins Feuer, beobachtete das Flackern und Züngeln der Flammen und dachte an das Gesicht in dem Kaminfeuer, das Velazquez gemalt hatte. Er erzählte Louise davon, als er sich auf den zweiten Klappstuhl am Karton-Tisch setzte, noch immer in die kratzige Decke gehüllt. Louise reichte ihm einen Teller mit Gulaschsuppe und ein Stück
Brot, das offenbar aus ihren eigenen Vorräten stammte und ziemlich hart war. Benjamin suchte verstohlen nach Schimmel daran.
»Velazquez war betrunken, wie wir alle«, sagte Louise. Die struppigen braunen Haarbüschel fielen ihr wieder in die Stirn, und Benjamin dachte daran, dass sie vielleicht den Kamm brauchte, den Abigale ihm mitgegeben hatte. »Jeder von uns hat Dinge gesehen, die nicht da waren.«
Benjamin ließ den Löffel sinken. »Ich habe sie wirklich gesehen, die andere Stadt. Wenn du das meinst. Eine Stadt mit vielen Lichtern. Bewohnt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ach, Ben …«
»Wir könnten versuchen sie zu erreichen. Die vielen Lichter deuten daraufhin, dass dort die Stromversorgung funktioniert. Vielleicht gibt es in jener Stadt Supermärkte wie den beim Gloria.«
Er wartete auf eine Antwort, aber Louise aß schweigend, und nach einer Weile sagte sie: »Erzähl mir vom Labyrinth.«
Und so erzählte Benjamin von seinem Ausflug in den Untergrund. Er schilderte die kurze Fahrt mit der Draisine, den Fund der Uhr, der die Zeiger fehlten, den Bahnsteig mit den halbvermoderten Kleidungsstücken, den zugemauerten Aufgang.
»Die Uhr«, sagte Louise nachdenklich. »Ich habe sie in der Penthouse-Wohnung zurückgelassen.«
»Macht nichts. Ihr fehlten ohnehin die Zeiger. Das Labyrinth … Es ist ein weit verzweigtes U-Bahn-System unter der Stadt, nicht wahr?«
»Ich bin nie dort unten gewesen, aber nach dem, was ich gehört habe … Ja, ich denke schon.«
»Diese Stadt ist alt«, sagte Benjamin. »Jahrhunderte. Ich habe im Hospital ein Gespräch zwischen Hannibal und Abigale belauscht …«
»Ach?« Louise musterte ihn neugierig, mit der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen.
Benjamin fasste das Gespräch zusammen. »Die Stadt ist mindestens zweihundert Jahre alt, und die U-Bahn dürfte ebenso alt sein, nicht wahr?«
»Vermutlich.«
»Wie passt das zusammen? Geh zweihundert Jahre Stadt-entwicklung zurück. Oder drei- oder vierhundert Jahre. Stell dir Paris, London oder Moskau im siebzehnten Jahrhundert vor. Ein U-Bahn-Netz gab es damals nicht.«
Etwas Verträumtes erschien in Louises Gesicht. »Weißt du, wie lange ich diese Namen nicht mehr gehört habe? Paris, London, Moskau …« Sie schüttelte den Kopf. »Du machst einen Denkfehler, Ben. Diese Stadt entwickelt sich nicht vom Alten zum Modernen. Sie lebt, ja, und sie wächst, du hast die neuen Stockwerke des Wolkenkratzers gesehen. Aber im Grunde genommen
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