Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
habe ich so sehr geliebt wie dich, meine liebe Frau, meine blonde Mitzi. Ich würde alles geben, um zu erfahren, ob wir uns glücklich wiedersehen werden. Wenn uns das nicht bestimmt ist, danke ich dir für die glücklichen Stunden, die du meinem Leben geschenkt hast.
Ich weiß nicht, ob diese Zeilen jemals in deine Hände gelangen werden. Schreiben verschafft mir in dieser Einsamkeit und inneren Leere Erleichterung. Möge Gott dir Kraft geben und dich trösten, wenn mir etwas passiert. Aber ich will nicht daran denken. Das Leben ist so schön. Ach, wenn wir doch in Frieden leben könnten! Ich kann mich noch nicht mit dem Gedanken an den Tod abfinden, aber die Höllenmusik des todbringenden Kampfes hört einfach nicht auf.
Jetzt ist Tag, die Sonne scheint, aber ringsum explodieren unaufhörlich Granaten. Ich bin vollkommen zerquält. Kann man das überleben? Alles bewegt sich wie bei einem Erdbeben.
Quelle: NA IRI RAN, f. 2, razd. III, op. 5, d. 3a, l. 4–5 ob.
Deutsche Soldatengräber bei Stalingrad, 1943. Fotografin: Natalja Bode
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
* * *
In sowjetischen Händen entfaltete dieses Tagebuch ein Eigenleben. Es wurde von Spezialisten ausgewertet und für militärstrategische und propagandistische Zwecke verwendet. Die Übersetzung ins Russische besorgte wahrscheinlich Major Alexander Scheljubski, der als Leiter der 7. (nachrichtendienstlichen) Abteilung in der politischen Verwaltung der 62. Armee eine ähnliche Funktion wie Pjotr Sajontschkowski in der 66. Armee bekleidete. Wie Sajontschkowski war Scheljubski Historiker von Beruf und sprach fließend Deutsch. [748] Während der Schlacht um Stalingrad fertigte er in mehrwöchigen Abständen Berichte über den »politisch-moralischen Zustand« der deutschen Einheiten an, gegen die die 62. Armee kämpfte. Die Berichte gingen auf einzelne Divisionen und ihre Kommandeure ein und zeichneten auf der Grundlage von erbeuteten Tagebüchern und Briefen sowie von Gefangenenaussagen ein detailliertes Bild von den Stimmungen in der 6. Armee. Einem dieser Berichte, dem vom 5. Januar 1943, fügte Scheljubski im Anhang das Tagebuch des deutschen Gefreiten bei. [749]
Scheljubski selbst sprach auch mit den Moskauer Historikern und erläuterte dabei seine Einschätzung des Gegners. [750] Die gegen die 62. Armee kämpfenden Soldaten seien fast ausnahmslos »Elitetruppen« und »Kaderdivisionen« gewesen, bestehend aus »reinblütigen Ariern« – nicht etwa aus rumänischen oder italienischen Verbündeten der Deutschen, die nach der Erfahrung der Sowjets schlechter kämpften. [751] Bis Anfang Oktober hätte die deutschen Soldaten die Hoffnung getragen, »Stalingrad im Flug zu erobern«. Einen Wendepunkt habe der unter anderen von der 305. Infanteriedivision gestartete deutsche Großangriff im Industrieviertel gebracht: »›Lasst den Ruf des Sieges ertönen!‹ [752] So konnte man die Stimmung in dieser Division beschreiben. Sie trat ungefähr am 14. Oktober in den Kampf ein. Nach zwei, drei Tagen hatte sie riesige Verluste. Diese Division wurde gegen das ›Barrikaden‹-Werk geworfen. Nach dieser Zuversicht, dem Gefühl, dass alles gut läuft und Stalingrad schon uns gehört, als sie dann wie es sich gehört in die Mangel genommen wurden, da haben sie einfach nicht mehr verstanden, was hier vor sich geht. Wir haben versucht, ihnen die Lage klarzumachen, und haben bei ihnen verschiedene Flugblätter verteilt …« – ein Hinweis darauf, dass Scheljubski die Stimmungen des Gegners immer mit strategischem Blick las und nach Möglichkeiten suchte, sie zu beeinflussen.
Scheljubski erzählte, wie der schon ab Oktober 1942 verbreitete Fatalismus in den Briefen und Tagebüchern der deutschen Soldaten sich nach der Einkesselung der 6. Armee im November vielfach in regelrechter Verzweiflung entlud. Er wertete diese Entwicklung als Ausdruck der mangelnden »moralischen« Gefestigtheit der deutschen Soldaten. Bei den Verhören von Gefangenen und der Lektüre von gegnerischen Dokumenten fielen ihm zwei Dinge besonders auf. Erstens die vielfachen Diebstähle und anderen Formen von soldatischen Übergriffen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung, »die so sehr in den Alltag der deutschen Soldaten und Offiziere übergegangen sind, dass die Kriegsgefangenen uns davon mitunter ohne jede Verlegenheit erzählen«. [753] Zweitens die Klagen der deutschen Soldaten über ihren Hunger:
»Hier muss man noch ein Moment
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