Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Sprechen von Rotarmisten sich nur in Klischeevorstellungen des sowjetischen Regimes bewegte, die mit der Realität des Krieges nichts zu tun hätten. Vielmehr sieht man eine von vielen Soldaten und Offizieren geteilte Sprache mit übereinstimmenden begrifflichen Mustern und Erfahrungshorizonten. Man erkennt auch, mit welchem Nachdruck politische Offiziere der Roten Armee im Krieg ihre Soldaten zu spezifisch sowjetischen Sprechweisen über sich selbst und den Gegner erzogen. Die in den Interviews dokumentierte Sprache war somit häufig zweierlei – eine Beschreibung der Kämpfe um Stalingrad und ein Beleg für die erfolgte ideologische Konditionierung des sprechenden Zeitzeugen.
Nach den Gruppengesprächen folgen neun Einzelinterviews, nach Möglichkeit in ganzer Länge vorgestellt, die das von der Historikerkommission gewonnene Quellenmaterial in seiner originalen Form zeigen. [278] Ausgewählt wurden Soldaten unterschiedlicher Ränge – vom Armeekommandeur bis zum einfachen Rotarmisten – und unterschiedlicher Ausdrucksgabe. Die Quellen sind auf einer militärischen Stufenleiter in absteigender Form angeordnet und beginnen mit den ausschweifenden und mit erkennbarem Selbstbewusstsein vorgetragenen Lebensläufen der Generäle Tschuikow und Rodimzew. Sie enthalten den minutiösen Report des Stabsoffiziers Axjonow ebenso wie die im Plauderton vorgebrachte Erzählung des Scharfschützen und »Helden der Sowjetunion« Saizew, der bereits zum Zeitpunkt des Gesprächs zur Legende geworden war, und den schlichten Bericht des einfachen Rotarmisten Alexander Parchomenko. Mit Frauen, die an der Stalingrader Front vorwiegend als Krankenschwestern, Wäscherinnen und Telefonistinnen Dienst taten, führten die Mitarbeiter der Historikerkommission nur wenige Gespräche. Stellvertretend für andere kommt die Sanitäterin Vera Gurowa zu Wort. Das Gespräch mit ihr folgt dem Interview mit General Rodimzew, in dessen Division Gurowa diente. An letzter Stelle steht der Bericht des in der Feindpropaganda tätigen Hauptmanns Sajontschkowski, der besonders interessante Einblicke in die sowjetische Wahrnehmung des deutschen Gegners bei Stalingrad gibt.
Im abschließenden Teil schwenkt die Dokumentation zu den Deutschen über. Sie stellt die Protokolle von einigen der ersten Verhöre vor, die Hauptmann Sajontschkowski im Februar 1943 unter den gefangen genommenen deutschen Offizieren vornehmen ließ. Im Anschluss daran zeigt sie ein deutsches Tagebuch aus dem Kessel. Beide Quellen entstammen dem Archiv der Historikerkommission.
Jedem Dokumentenabschnitt, jedem Gruppengespräch und jedem einzelnen Interview ist zum besseren Verständnis eine Einführung vorangestellt worden. Weitere Erläuterungen finden die Leser in den Anmerkungen am Ende des Bandes.
Das Schlusskapitel schildert das Schicksal der Historikerkommission um Isaak Minz nach dem Kriegsende und erläutert, warum die Dokumente bis heute unter Verschluss geblieben sind.
Die Protokolle werden mit allen ihnen eigenen stilistischen Besonderheiten wiedergegeben; korrigiert wurden allein offensichtliche Tippfehler. Runde Klammern in den Dokumententeilen stammen von den Mitarbeitern der Kommission; eckige Klammern hingegen verweisen auf Bemerkungen und Kürzungen der Herausgeber. Bei deutschen Namen in den Dokumenten ist zu beachten, dass sie – sofern sie nicht handschriftlich mit lateinischen Buchstaben im Protokoll vermerkt waren – aus dem Russischen zurückübersetzt wurden und nicht immer zuverlässig rekonstruiert werden konnten. So wird etwa der in kyrillischen Schrift als »Gejnz Chjunel« («Гейнц Хюнель) bezeichnete Soldat in der deutschen Übersetzung als »Heinz Hühnel« wiedergegeben (S.500). Der Soldat mag aber auch »Heinz Hünel« geheißen haben.
Neben den Interviewprotokollen enthält der Band sowjetische Fotografien, Flugblätter und Plakate aus dem Umfeld der Schlacht von Stalingrad. Diese veranschaulichen das Schlachtgeschehen, aber sie leisten daneben noch mehr. Ebenso wie die Gespräche der Historiker mit den Rotarmisten das Kriegserlebnis beschrieben und dabei zugleich die Gesprächspartner ideologisch konditionierten, lassen sich viele dieser Bilddokumente zur Schlacht nicht bloß als Abbildungen lesen, sondern zugleich als visuelle Interventionen, als gezielte Versuche von Künstlerautoren, sich selbst und die Betrachter ihrer Kunst in den Krieg einzuschalten, sie für einen höheren Kriegseinsatz zu mobilisieren. Mit
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