Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
benennen, das, wie ich glaube, eine riesige Rolle beim moralischen Zustand des umzingelten Gegners spielte: das Essen. Die Deutschen können nicht hungern. Unser russischer Soldat hat nicht nur während des Vaterländischen Krieges, sondern auch im Bürgerkrieg und in allen anderen Kriegen seine Fähigkeit gezeigt, Hunger zu erdulden. Die Deutschen können nicht hungern; wenn sie kämpfen, sind sie es gewohnt, sich wie die Schweine vollzustopfen. Das kann man anhand von vielen Briefen belegen. Es ist irgendwie unheimlich – sie reden nur vom Essen. Ich habe Dutzende von Gefangenen verhört, meine Mitarbeiter ebenso, und es gab nicht einen einzigen Fall, in dem der Gefangene nicht mit dem Essen anfängt. Essen, das steht bei denen an vorderster Stelle. Das ganze Hirn ist nur mit Fressen ausgefüllt. Bei ihnen sah es in letzter Zeit sehr schlecht aus. Sie bekamen zuletzt nur noch 100 Gramm Brot oder weniger.«
Scheljubski und andere politische Offiziere der Roten Armee lasen die Mitteilungen der Deutschen durch ihre eigene sowjetkommunistische Brille; sie projizierten dabei ihre eigenen Vorstellungen vom Soldaten, der maßgeblich kraft seines Willens kämpfte, auf die Aussagen des Gegners. Der soldatische Wille war ihrer Meinung nach gefestigt und »gesund«, wenn er hohen Zielen diente, dem »Kampf gegen den Faschismus«, der »Befreiung der geknechteten Völker«. Eine Armee, die solche Ziele nicht auf ihre Fahnen schrieb und allein eroberte, raubte und vernichtete, konnte nur moralische Krüppel hervorbringen. Dass Paulus und die anderen gefangen genommenen deutschen Generäle keine größeren Ziele für ihr Handeln zu benennen wussten und erklärten, dass sie als Militärs nicht für politische Fragen zuständig seien, legten ihre russischen Befrager ihnen als Schwäche aus. Die Disziplin in der Wehrmacht nötigte den Sowjets Respekt ab; politisch hingegen war in ihren Augen die Rote Armee weit gefestigter.
Aus Scheljubskis Bericht wanderte das Tagebuch des deutschen Gefreiten in die sowjetischen Medien. Am 25. Januar 1943 wurden kurze Auszüge im sowjetischen Rundfunk verlesen, tags darauf erschienen sie auch in der Prawda . [754] Zumeist hielt sich die Zeitung an Scheljubskis Vorlage, sie verdichtete diese jedoch zu einem Kampf ums Überleben innerhalb der Wehrmacht und akzentuierte den Streit zwischen den Soldaten und die blankliegenden Nerven. Das Drama des seinem Schicksal ausgelieferten Soldaten ist nun nicht mehr erkennbar. Thematisiert wird stattdessen der moralische Verfall der deutschen Armee.
An einer Stelle verfälschte die Prawda auch das Tagebuch. Während der Gefreite in der von Scheljubski übersetzten Fassung allein noch »auf ein Wunder Gottes« hofft, beschwor die Zeitung eine andere Perspektive: »Aus dieser schrecklichen Hölle sehe ich nur noch einen Ausweg: die Gefangenschaft«. Zum Ende der Schlacht von Stalingrad hin verstärkten Scheljubski, Sajontschkowski und die anderen sowjetischen Feindpropagandisten ihre Bemühungen, die deutschen Soldaten zum Aufgeben zu bewegen. Sie versuchten den unter den Deutschen verbreiteten Glauben zu entkräften, dass sowjetische Gefangenschaft gleichbedeutend sei mit Folter und Tod. Der anhaltende Widerstand der Deutschen, maßgeblich von der Angst vor der sowjetischen Gefangenschaft geschürt, nährte seinerseits den Hass auf der gegnerischen Seite. In der Tat: Reihenweise schildern die Stalingrader Protokolle, wie deutsche Soldaten, die sich nach dem Kampf ergaben, von Rotarmisten geschlagen oder erschossen wurden.
Anhang
Deutsche Kriegsgefangene in Stalingrad. Fotograf: Samsonow.
Karten
Archive und Bildquellen
Archive
CAMO RF: Central’nyj archiv Ministerstva oborony Rossijskoj Federacii (Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation), Podolsk bei Moskau
CAGM: Central’nyj archiv goroda Moskvy (Zentralarchiv der Stadt Moskau)
GAVO: Gosudarstvennyj archiv Volgogradskoj oblasti (Staatsarchiv des Gebiets Wolgograd), Wolgograd
Hoover Institution Archives, Stanford University
Privatarchiv Tatjana Jerjomenko, Moskau
NA IRI RAN: Naučnyj archiv Instituta rossijskoj istorii Rossijskoj akademii nauk (Wissenschaftliches Archiv des Instituts für Russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften), Moskau
PhotoSoyuz Agency, Moskau
Privatarchiv Bodo Roske, Krefeld
RIAN: RIA Novosti (Bildarchiv der Nachrichtenagentur Nowosti), Moskau
RGAFD: Rossijskij gosudarstvennyj archiv fonodokumentov (Staatliches
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