Die Statisten - Roman
man sie nach Gutdünken ein, ohne Wenn und Aber. Deswegen hieà sie ja Macht.
Er meditierte über den Rat, den Mr Patil ihm gegeben hatte. Wie viel hätte er verlangen müssen, um ihn zu beeindrucken? Fünfzigtausend, hunderttausend, zehn Millionen? Wie viel waren zehn Millionen überhaupt? Sieben Nullen oder neun? Und wäre Mr Patil von seiner Kühnheit beeindruckt gewesen, hätte er ihm das Geld gegeben und ihn laufenlassen? Oder wäre lediglich seine Strafe noch schlimmer ausgefallen? Obwohl das schwer vorstellbar war, da er sich keine Qual vorstellen konnte, die noch gröÃer gewesen wäre als die, die er gerade durchlitt. Wenn man mächtig war, konnte man es sich leisten, unlogisch und unberechenbar zu sein. Eines war sicher: Mr Patil war nichts weniger als die Bhagavadgita des Geschäftssinns. Was hatte er noch mal gesagt? Business war alles. Und alles war Business. Schau dich um: Wälder sind Business, Lebensmittel sind Business, Transport und Verkehr sind Business, Landwirtschaft ist Business, Abfall ist Business und ebenso der menschliche Körper.
Das Licht begann jetzt zu schwinden. Die Autos, die Sita und die Familie des Bräutigams zu ihrem neuen Zuhause gefahren hatten, waren inzwischen zurück. Selbst die Geräusche der Stille waren verstummt. Hände und Beine waren ihm eingeschlafen. Er hatte sich schon vor Längerem in die Hose gepinkelt, aber auch dieser Geruch war bereits verflogen. Er verspürte weder Hunger noch Durst. Wie viele Tage brauchte ein Mensch, um zu verhungern?
Er schreckte aus dem Schlaf, als Mr Patil und Gajanan das Garagentor aufschlossen und hereinkamen. Das Licht stach ihm scharf in die Augen. Wie spät war es? Seine Zunge war von dem weiÃen, pelzigen Belag bedeckt, der laut seiner Mutter ein sicheres Anzeichen dafür war, dass er keinen regelmäÃigen Stuhlgang hatte. Während des Schlafens hatte sein Kopf offenbar vornübergehangen; er hatte einen furchtbar steifen Nacken. Gajanan band ihn los und nahm ihm den Knebel ab.
âWie spät ist es?â
âHalb sieben. Steh auf!â
Ravan versuchte es, fiel aber nach vorn.
âKann ich bitte etwas Wasser haben?â
âEs stinkt ja ekelhaft!â
Vater und Sohn hoben Ravan auf und verfrachteten ihn in den Jeep. Als der Wagen beschleunigte, fühlte sich die Morgenluft gut an. Ravan versuchte, die FüÃe zu heben und sie gegen den Wagenboden zu schlagen, um seinen Kreislauf wieder in Bewegung zu bringen, aber seine Beine waren ebenso taub wie seine Arme und Hände. Die StraÃen waren frei, und Gajanan fuhr, als habe er eine Verabredung und sei ein paar Tage zu spät dran. Sie hatten schon fast die SchnellstraÃe erreicht, als der Jeep plötzlich stoppte. Mit seinen tauben Händen und Beinen wurde Ravan auf den Wagenboden geschleudert.
Gajanan öffnete die Tür und zerrte Ravan heraus. Er fing an, ihn auszuziehen. Als er zu Hose und Unterhose gelangte, hielt er die Luft an und versuchte, möglichst wenig Kontakt mit den Knöpfen zu haben.
âWas tun Sie da?â, protestierte Ravan mit zunehmendem Entsetzen. Die Knie gaben noch immer unter ihm nach. âUm Gottes willen, was tun Sie da?â
âBye-bye, Mr Pawar. Es ist Ravans Schicksal, zehn Mal getötet zu werden. Aber das werden wir anderen überlassen. Sagen wir einfach, dies ist ein symbolischer Tod. Oder vielleicht auch eine Wiedergeburt. Sie wollten uns unsere Ehre nehmen. Jetzt sehen Sie selbst, wie es ist, wenn einem alles genommen wird. Leben Sie wohl!â
Der Jeep wendete, fuhr zurück, bog nach rechts ab und verschwand. Ravan war fest davon überzeugt, für den Rest seines Lebens gelähmt zu sein, aber nach einer Viertelstunde konnte er seinen rechten Arm wieder ein bisschen bewegen. Er hob mit der rechten Hand seine Linke und lieà sie ein Dutzend Mal hinunterfallen. Ein Auto kam die StraÃe entlang. Er winkte verzweifelt. âStopp! Stopp! Hilfe!â Der Fahrer sah ihn an und lachte, machte einen Schlenker und fuhr weiter. Der Mann im Fond drehte sich um und starrte durch das Heckfenster, bis das Auto hinter einer Kurve verschwand. Was war so gottverdammt komisch? Ravan sah an sich hinunter und erkannte, dass da einiges in der Tat ein bisschen komisch war. Er humpelte eilig die Böschung hinauf und lieà sich in den Graben rollen.
âDreckschwein, Hurensohn, Bastard!â, schrie er lauthals. âHat mir nicht einen
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