Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Willen zu vernichten, deine Gesundheit, dein Leben. Es ist ihnen nicht geglückt, willst du ihnen denn helfen, daß sie es doch noch erreichen? Gib dich doch nicht deinen Erinnerungen hin, laß nicht zu, daß sie dein Leben beherrschen! «
Nicolas’ blicklose Augen bekamen einen leichten Glanz.
»Ich weiß, Mary. Ich will ja auch alles vergessen. Es ist so gut, daß du da bist...« Er zog sie erneut zu sich heran, aber diesmal nicht sanft wie zuvor, sondern heftig und wild. Seine Hände schoben ihr Kleid von den Schultern, seine Lippen wanderten abwärts, trafen auf bloße Haut und verweilten dort sehnsüchtig. Wieder hatte Mary das Gefühl, daß sich die Jahre auflösten, die seit ihrer ersten Begegnung verstrichen waren. Sie standen am Strand der Themse, die Luft hallte wider vom Geschrei der Händler und von den Stimmen der Straßenjungen, die laut brüllend die Schlagzeilen ihrer Flugblätter verkündeten. Es war wieder jener wilde Frühling, in dem der König der Kirche von Rom den Krieg erklärt und ganz England gebrodelt hatte. Es war die Zeit vor dem Prozeß der Anna Boleyn, sie waren jung und glücklich und verlachten jeden, der sie vor den Übellaunigkeiten des Schicksals warnen wollte.
Jetzt umarmten sie einander mit der Sehnsucht gereifter und wissender Menschen, die einer im anderen eine vergangene Unbefangenheit suchen und doch wissen, daß sie sie nicht mehr finden. Es war zuviel geschehen seither. Aber heute wie vor Jahren entzückte Mary die Schönheit von Nicolas’ Gesicht, die Sanftheit und Wärme seiner Hände. Nur widerstrebend löste sie sich aus seinen Armen und trat zurück.
»Ich möchte, daß du dich ganz für mich entscheidest«, sagte sie leise. »Ich werde fortgehen.«
Er sah sie fassungslos an. »Fort? Wohin? Warum?«
»Nicht für immer. Ich lasse dich zwei Wochen allein. Ich weiß nicht, wo ich hingehe, vielleicht nach London, vielleicht an die Südküste. Du sollst dich frei entscheiden. Wenn ich wiederkomme, dann bist du entweder noch hier, oder du hast es nicht ausgehalten und bist fort. So oder so, wir wissen dann beide, woran wir sind.«
»Ja, aber warum bleibst du nicht hier?«
Mit dem Finger strich sie ihm sanft über die Augenbrauen. »Weil ich es nicht ertrage. Ich kann dich nicht jeden Tag sehen und dich jeden Tag mehr lieben und in jedem Moment Angst haben, daß du mich verläßt. Und außerdem... das letzte Mal, als du mich haben wolltest, da ging dir dieser Wunsch auch erst auf, nachdem ich fort war von dir. Ich hoffe darauf, daß dieses Wunder wieder geschieht. «
Nicolas schien noch immer kaum zu begreifen, was er hörte. »Ich brauche kein Wunder«, sagte er flehend, »ich brauche Zeit!«
»Die hast du«, entgegnete Mary hart, »zwei Wochen. Ich würde alles für dich tun. Aber wenn du glaubst, daß du in mir nicht das findest, was du suchst, wenn du Marmalon nicht ertragen kannst, dann mußt du tun, wozu es dich drängt.«
Nicolas verzog den Mund zu einem halben Lächeln, in seinen Augen stand Bewunderung.
»Ganz kühle Dame«, bemerkte er, »sag mir, mein Engel, gibt es irgendeine Lebenslage, aus der du nicht als die Überlegene hervorgehst? «
Mary antwortete nichts darauf, aber bei sich dachte sie: Wenn du mich verläßt, Nicolas, dann bin ich am Ende. Niemals in meinem Leben habe ich mit höherem Einsatz gespielt als jetzt.
Sie ging an ihm vorbei die Treppe hinauf, der leichte Stoff ihres Kleides streifte seinen Arm. Er konnte ihr Rosenparfüm riechen und den Duft ihrer Haut nach Sonne und Wind. Er hätte nach ihr greifen und sie festhalten mögen, aber eine Scheu, wie er sie an sich sonst nicht kannte, hinderte ihn daran. Mary sah sich um. »Ich werde gleich Dilys bitten, mir beim Packen zu helfen«, sagte sie. Sie blickte an Nicolas vorbei hinunter in die Halle. Draußen brach die Sonne durch die Wolken und ihr Licht malte helle Kreise auf den marmornen Fußboden.
»Ich habe Unvollständigkeiten nie gemocht«, sagte sie, mehr zu sich als zu Nicolas, »ich mag es, wenn sich Kreise irgendwann schließen. Und außerdem sollte ich vielleicht wirklich einmal nach meiner Familie sehen.« Sie ging weiter, ihre nachdenkliche Miene hatte sich entspannt.
»Ich gehe heim nach Shadow’s Eyes«, verkündete sie.
So stand sie am Ende eines langen Weges auf dem Friedhof von Shadow’s Eyes und erwachte nur langsam aus ihren Gedanken und dem dichten Gespinst ihrer Erinnerungen. Es war längst Nacht geworden, und durch die Blätter der Bäume hindurch sah sie
Weitere Kostenlose Bücher