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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Vorhaltungen, die sie Frank gemacht hatte. Er benutzte dieselben Worte wie Frank: pathologische Lügnerin. Geistesgestörte Kriminelle. Er erzählte ihr von den Medikamenten und den Heilanstalten. Aber sie solle sich keine Sorgen machen, da sie diese schrecklichen Leute bald nicht mehr sehen müssten. Die ganze Zeit hatte sie dagestanden, blass und schockiert. Und er hatte zu erkennen geglaubt, wie sich etwas in ihr veränderte, kaum merklich, sodass er es nicht recht hatte benennen können. Es war, als sei etwas von ihrem inneren Leuchten verschwunden, für immer erloschen.
    Sie hatte etwa eine Stunde lang am Bug gesessen, den Sonnenuntergang beobachtet und versucht, sich einen Reim auf alles zu machen. Sie hatte den Irrsinn in Annies Augen gesehen, hatte ihr geradewegs ins Gesicht gestarrt. Frank hatte sie gebeten, sich mit Smudge in die Kajüte zu setzen und ihr etwas vorzulesen, damit sie nicht ins Vorschiff ging, wo Annie schlief. Sie hatte Smudge das Haar gebürstet und nach Kräften versucht, sie über den Verlust von Granny hinwegzutrösten, doch als sie über den Tisch hinweg nach einem neuen Buch gegriffen hatte, war die Tür aufgeschwungen und hatte den Blick auf etwas freigegeben, dessen Anblick sie nun nicht mehr aus dem Kopf bekam: eine halb nackte, reglose Annie auf dem Bett liegend, die großen, seelenvollen Augen starr auf Clem gerichtet, ohne sie zu erkennen, verloren in einer Welt, zu der nur sie Zugang hatte, die Arme ausgebreitet, sodass sich ein ungehinderter Blick auf die roten, aufgeworfenen Wunden im harschen Licht der Seitenbeleuchtung bot. Clem war vor Entsetzen erstarrt. Frank, der im Badezimmer gestanden und mit einem Tablettenröhrchen zwischen den Zähnen, ein frisches Päckchen Verbandszeug aufgerissen hatte, war herausgetreten und hatte ganz langsam die Tür zugeschoben. Er hatte sie behutsam, aber bestimmt ausgeschlossen.
    Sie hatte dagestanden, allein gelassen mit der Frage, wie es dazu hatte kommen können und was in Annies Kopf vorgehen musste, dass sie so etwas Entsetzliches tun konnte. Aber in allererster Linie hatte sie sich gefragt, wieso ihr keiner etwas gesagt, wieso keiner ihre Hilfe gewollt hatte und wieso sie immer die Letzte war, die etwas erfuhr.
    Johnny und sie saßen im Cockpit, eingehüllt in die nächtliche Dunkelheit, die sie wie eine Decke umgab. Bis auf das Stampfen des Boots und das stete Rauschen, mit dem sich der Rumpf seinen Weg durchs Wasser bahnte, herrschte Stille. Sie sah, wie er das Segel zurechtzog, immer wieder nach unten ging, um das Genuasegel vom Baum zu lösen, die Augen stets nach backbord gerichtet, hinaus auf die offene See. Sie wusste, dass er Ausschau nach Hinweisen auf Zivilisation hielt, und sie tat dasselbe.
    »Das Ganze ist nicht unser Problem, Clem«, wiederholte er pausenlos, als hätte sie ihn danach gefragt. Er setzte sich wieder neben sie und zündete sich eine Zigarette an. Wie entsetzlich es gewesen sein musste, Annie in einer riesigen Blutlache vorzufinden.
    »Wir hauen einfach so schnell wie möglich ab. Bei der erstbesten Gelegenheit. Sobald ich die Lichter eines Dorfes sehe, sind wir von Bord.« Selbst während er sprach, hielt er Ausschau nach den Lichtern, doch da waren nirgendwo welche, sondern nur die endlose Schwärze des Ufers und das fahle Licht des Mondes.
    »Aber ist das auch das Richtige, Johnny?«
    »Was meinst du damit?«
    »Können wir sie ausgerechnet jetzt im Stich lassen?«
    »Wie bitte?« Für einen kurzen Moment teilten sich die Wolken, sodass sein Gesicht in kaltes silbriges Grau getaucht war, das die Furchen auf seiner Stirn hervortreten ließ. Er sah anders aus. Älter.
    »Sollten wir nicht warten, bis es Annie ein bisschen besser geht? Das ist Frank und Annie gegenüber nicht besonders fair.«
    Er wandte den Blick ab. »Es ist mir egal, ob das fair ist oder nicht. Wir hauen ab.«
    Kurz darauf kam Frank mit Pullovern und Ölzeug heraus. Er sah müde aus. Zu müde. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wortlos zog sie einen Pullover und die Regenjacke über. Er setzte sich gegenüber von ihr hin und blinzelte, während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. »Sie schläft jetzt.«
    Nach einer Weile bat Johnny Clem, das Steuer zu übernehmen und den Kurs zu halten, während er nach unten ging, um einen Blick auf die Karten zu werfen. Sie spürte die Kälte seiner Hand und sah ihm nach, als er unter Deck verschwand und die Türen hinter sich schloss.
    Seit Frank sie ausgeschlossen hatte, war sie

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