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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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hier.«
    Er schloss die Tür, durchquerte die Kajüte und schnappte sich das Messer. Dann stolperte er die Treppe hinauf an Deck und schwang sich über die Reling ins Beiboot. Erst jetzt registrierte er, dass seine Beine und Hände so heftig zitterten, dass er kaum die Ruder halten konnte.
    Sein Blick fiel auf das Messer, auf dessen Griff ein Blutfleck glänzte, dann sah er zum Ufer hinüber, wo Frank, Clem und Smudge ihn bereits erwarteten. Sie schirmten mit den Händen die Augen gegen die Sonne ab und fragten sich wahrscheinlich, warum Annie nicht mitgekommen war. Er ruderte weiter, bis das Beiboot auf Sand lief. Seine Knie zitterten so heftig, dass er Mühe hatte, herauszusteigen. Er brachte es nicht über sich, ihnen in die Augen zu sehen, sondern kehrte ihnen den Rücken zu und zog das Beiboot an den Strand.
    »Wo ist Mami? Wir wollten doch Kuchen essen«, fragte Smudge und kam angelaufen, um ihm zu helfen.
    »Es geht ihr nicht gut. Sie hat sich eine Weile hingelegt«, erklärte Johnny, sorgsam darauf bedacht, den Blickkontakt zu vermeiden. Sie glaubten ihm. Keiner schien zu bemerken, dass er wie Espenlaub zitterte.
    »Hast du das Messer mitgebracht?«, fragte Clem.
    Er sah sie verständnislos an. Sie sah es im Boot liegen und nahm es. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der glänzenden Klinge, die Annies Leben um ein Haar ein Ende gesetzt hätte. Er folgte ihnen. Minuten später standen sie zu viert um den Geburtstagskuchen mit den fünf Kerzen herum und sangen Happy Birthday . Johnny formte die Worte lautlos mit den Lippen, während Smudge den Kuchen auf den Tellern verteilte. Es schien, als hätte er seine Stimme verloren. Er konnte nichts essen. Eine tiefe Leere hatte von ihm Besitz ergriffen, und das Zittern schien nicht aufhören zu wollen. Er musste es Frank sagen. Langsam zogen die Wolken über ihren Köpfen hinweg.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte er und fragte sich, ob er die Worte tatsächlich laut ausgesprochen hatte, denn keiner schien ihn gehört zu haben. Stimmengewirr drang an seine Ohren. Smudge weinte, während Clem und Frank ihn beklommen anstarrten. Sie wussten es. Wahrscheinlich hatten sie eins und eins zusammengezählt. Aber nein, Smudge konnte bloß Granny nicht mehr finden. Alle drei liefen herum und suchten nach der verschwundenen Schildkröte, während Annie an Bord der Little Utopia lag und um ihr Leben kämpfte. Am liebsten hätte er die Hand nach Frank ausgestreckt, doch sein Körper wollte ihm nicht gehorchen. Clem und Smudge kletterten zwischen den Felsen herum, doch er stand weiter wie angewurzelt am Strand und blickte zur Little Utopia hinüber. Mit zitternden Fingern versuchte er, sich eine Zigarette zu drehen, und fragte sich, wie die Dinge so außer Kontrolle geraten konnten. Wie hatte ihm entgehen können, dass sie geradewegs auf eine Katastrophe zusteuerten? Es ergab keinen Sinn. Franks Worte hallten in seinen Gedanken wider: Psychotisch … wahnhaft … schizophren … pathologische Lügnerin. Dabei hatte sich alles so plausibel angehört. Er dachte daran, wie sie ihm im Beiboot die Hand auf den Schenkel gelegt hatte, an die Verzweiflung in ihren bleichen Augen. »Hilf uns. «
    Er registrierte Frank neben sich. »Was ist passiert, Johnny? Du hast Blut am Arm.«
    Johnny fuhr herum und hob den Arm. Frank hatte recht. Auf seinem linken Unterarm prangte ein verschmierter Blutfleck. »Wir müssen an Bord«, sagte er. »Sie hat sich mit dem Messer verletzt, Frank. Sie braucht einen Arzt.«
    Frank seufzte. Die Nachricht schien ihn weder zu wundern noch aus der Bahn zu werfen. »Wo?«
    »Es geht ihr gut«, sagte Johnny, obwohl Frank ihn nicht danach gefragt hatte. »Am linken Handgelenk. Sie hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden.« Es war eine Wohltat, ihm alles zu erzählen, die Last mit ihm zu teilen. Sein Mund war so trocken, dass ihm die Worte im Halse stecken blieben. Einen Moment lang fürchtete er, loszuschreien oder in Tränen auszubrechen.
    Frank blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Little Utopia hinüber. »An Smudges Geburtstag? Heute ist ihr beschissener Geburtstag, Herrgott noch mal!«
    Johnny war heilfroh über seine Worte. Über seine Wut. Er empfand ganz genauso. »Wieso hat sie das getan?«, fragte Johnny und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, ohne den Blick vom Boot zu lösen.
    »Vertikal oder horizontal?«
    »Was?«
    »Das Handgelenk.«
    »Das weiß ich doch nicht, verdammt noch mal. Ich bin kein Arzt. Ich hab sie verbunden.«
    Seine

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