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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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verletzlich sehen, miterleben, dass er jemanden brauchte. Sie , zum Beispiel.
    Er hielt inne, tippte eine Zigarette aus dem Päckchen und beugte sich vor, um sie anzünden. Dann reichte er die Zigarette an sie weiter. Es gefiel ihr, wenn er das tat. Sie nahm sie entgegen und spürte dabei die Wärme seiner Finger. Augenblicklich reagierte ihr Körper darauf. Sämtliche Härchen auf ihren Armen richteten sich auf.
    »Tja, dann wirst du mich jetzt wohl verlassen«, sagte er leise.
    Ihr Herz schlug schneller bei dem Wort mich , und sie fragte sich, ob dies vielleicht sein Hilfeschrei sein könnte. Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette.
    »Johnny will, dass wir gehen.«
    Er nickte und blickte auf seine Hände. Unwillkürlich musste sie an seine Finger denken, auch wenn es angesichts der Tatsache, dass seine Frau mit aufgeschnittenen Pulsadern dort unten lag, falsch war. Sie dachte an seine Finger, die in ihrem Körper gewesen waren, daran, wie sie den Rhythmus ihrer Lust aufgenommen hatten. Allein beim Gedanken daran wurde sie feucht. Ein leiser Schauder überlief sie, und sie spürte, wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten.
    »Und du, Clemency? Was willst du?«
    Niemand sonst nannte sie Clemency. Es fühlte sich unglaublich intim an. Sie spürte, wie der Schauder ihren ganzen Körper überlief, bis hinab zwischen ihre Beine.
    »Ja?«, sagte er.
    »Ich glaube, ich will noch eine Weile bleiben.«
    Die Cockpittüren schwangen auf, und Johnny kam mit Kaffee und einer kleinen Flasche Brandy heraus. Scheinbar mühelos schien er Teil der Intimität zwischen ihnen zu werden.
    »Johnny«, sagte Frank und beobachtete, wie Johnnys Blick auch jetzt unweigerlich zum Ufer glitt. »Ich werde euch wirklich vermissen, wenn ihr weg seid.«
    »Du findest schon ein anderes Pärchen, mit dem du dich amüsieren kannst«, gab er zurück, nahm Clem das Ruder aus der Hand und beugte sich über den Kompass.
    Clem wünschte, er hätte es nicht gesagt. Die Vorstellung, ersetzbar zu sein, gefiel ihr nicht.
    »Ich bin nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist.« Frank rieb sich nachdenklich über den Bart, trotzdem schien ihn die Vorstellung zu amüsieren. »Einmal haben wir ein australisches Pärchen an Bord eingeladen. Wir haben sie irgendwo an der jugoslawischen Küste kennenglernt und auf einen Drink an Bord eingeladen. Ich musste kurz weg, um eine neue Flasche zu holen. Als ich zurückkam, hatten sie sich ganz dicht an die Bordkante gequetscht, kreidebleich und mit so einem komischen Grinsen im Gesicht. Es stellte sich heraus, dass Annie ihnen erzählt hatte, ich hätte ihre Mutter ermordet, in Stücke gehackt und in die Kühltruhe gesteckt.«
    Er lachte. Sie stimmten ein, doch das Gelächter war nur eine Fassade, und sie wussten es alle ganz genau. Schweigend ließen sie den Brandy kreisen – es fühlte sich beinahe wie ein Ritual an, die Flasche zu teilen. Innerhalb weniger Minuten lullte sie der arrythmische Rhythmus des Boots ein, bot eine willkommene Ablenkung von den Geschehnissen des Tages und zwang sie, den Moment wahrzunehmen, das stete Heben und Senken, Heben und Senken im Einklang mit den unvorhersehbaren Bewegungen der Wellen, durchbrochen von einem Schwall salzigen Wassers, das ihnen von Zeit zu Zeit in die Gesichter spritzte.
    Irgendwann im Verlauf der Nacht schien die Stimmung umzuschlagen. Der Mond hatte sich aus den Wolken gelöst und schien in harschem, kalten Weiß auf sie herab, während die Hässlichkeit des Tages immer weiter aus ihrem Bewusstsein gedrängt wurde, vergessen im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses. Die Wellen wurden immer höher, der Bug hob sich in den nächtlichen Himmel und schlug donnernd auf dem Wasser auf, sodass die Gischt wie Funken einer Wunderkerze auf das Deck sprühte. Und sie lachten und kreischten wie von Sinnen, als ihnen das salzige Nass ins Gesicht spritzte und sie von oben bis unten durchnässte. Für einige Stunden war die Absurdität ihrer winzigen Existenzen das Einzige, was zählte.
    Es schien, als liege Spannung in der Luft, eine Art greifbarer Elektrizität. Selbst das Wasser schien zu leuchten und die nächtliche Dunkelheit in einen irisierenden Schimmer zu tauchen. Zischend pflügte die Little Utopia durch die Fluten. Johnny konnte es fühlen – die Energie, die Intensität des Hier und Jetzt, die Bedeutungslosigkeit der Vergangenheit und der Zukunft. Es war nicht länger wichtig, was Frank und Annie getan oder nicht getan hatten, was passiert oder nicht passiert war –

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