Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
ließ. Mit seinem ganzen Körpergewicht stemmte er sich dagegen, bis sich die Tür einen Spalt öffnen ließ und er einen Blick auf ein Stück nackter Haut auf dem Boden erhaschte. Sie war neben dem Bett ohnmächtig geworden.
»Annie?«, rief er abermals, mittlerweile stinkwütend. Wieso konnte sie sich nicht zumindest ein klein bisschen zusammenreißen, wenigstens für ihre Tochter. Was war sie bloß für eine Mutter?« Andererseits – was kümmerte es ihn noch? Wind kam auf, und er und Clem waren so gut wie weg. Er machte kehrt und erklomm die Treppe. Sein Blick fiel auf einen Adler, der die Thermik nutzte und über die Berge hinwegsegelte. Er riss das Vorluk auf und spähte hinein.
»Annie! Los, aufstehen. Zeit für den Kuchen.« Sie lag reglos mit dem Rücken zu ihm zusammengekauert auf dem Boden, nackt und klitschnass. Dann sah er das Blut.
Mit dem Kopf voran rutschte er durch die Luke, sprang über das Bett, packte sie an der Schulter und riss sie herum.
»Annie?« Er rollte sie auf den Rücken. Eine dunkelrote Blutspur verlief über ihre gesamte linke Körperhälfte. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen waren in den Höhlen nach hinten gerollt. In der rechten Hand hielt sie ein großes Küchenmesser, und an ihrem linken Handgelenk klaffte eine tiefe Wunde, aus der ein steter Blutstrom floss. Das Blut tropfte auf den Boden und zerlief in einer größer werdenden Lache. Sie stieß einen leisen Schrei aus. Sie lebte noch, war gerade noch bei Bewusstsein.
»Großer Gott, Annie! Verdammte Scheiße noch mal, Annie!«
Er schnappte ein T-Shirt vom Bett und ging auf die Knie, wobei er prompt in der Blutlache ausrutschte. Er zog sie hoch, lehnte sie gegen seinen Oberkörper und schlang eilig das T-Shirt um ihr Handgelenk, um die Blutung zu stoppen. »Es ist ihr Scheißgeburtstag, verdammt noch mal!«, murmelte er. »Ihr Scheißgeburtstag.«
Er hob sie hoch, legte sie aufs Bett und schob ihr ein Kissen unter den Kopf. Wieder schrie sie vor Schmerz und schlug stöhnend die Augen auf. Als sie ihn erkannte, verzog sie das Gesicht, als müsse sie weinen, wenn sie die Kraft dafür noch aufbringen würde, und ihre Lippen bewegten sich, doch er konnte nicht verstehen, was sie sagte.
»Was sagst du, Annie?«, rief er panisch, drückte seine Stirn gegen ihre und starrte in ihre glasigen Augen. Er schmeckte Blut auf den Lippen, metallisch und warm. »Halt durch, Annie. Bitte, halt durch.«
»Bad …«, flüsterte sie. »Schrank …« Er sprang vom Bett, rannte ins Bad und riss den Medizinschrank auf. Zwei Verbandskästen lagen darin, der eine noch verschlossen, der zweite offen – es war derselbe, den Annie an ihrem ersten Abend an Bord verwendet hatte. Er nahm ihn heraus und legte ihn aufs Bett. Stöhnend warf sie den Kopf hin und her, während ihre Augen erneut in den Höhlen nach hinten kippten.
»Los, Annie«, sagte er und hob ihren Kopf an. Panik überfiel ihn. Sie würde sterben. »Bleib wach, Annie … bitte … Gott … Du bist kein schlechter Mensch … Denk doch an Smudge … Du bist kein schlechter Mensch.«
In diesem Moment schien sich ein Schalter in seinem Innern umzulegen. Seine Panik wich emotionslosem Pragmatismus. Mit ruhigen, konzentrierten Bewegungen legte er ihr einen Verband an, schlang ihr eine Decke um die Schultern und stützte ihren Arm auf ein Kissen. Die ganze Zeit über wimmerte sie vor Schmerz. Er zerdrückte vier Aspirin und zwang sie, sie mit einem Glas Wasser zu schlucken. Er lief hin und her, versuchte, Ordnung zu machen, die Spuren ihres Selbstmordversuchs zu beseitigen. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat. Es gab Dinge, die sich nicht verheimlichen ließen, dennoch hatte er das Gefühl, es tun zu müssen. Für Smudge. Ein Kind sollte seine Mutter in so einem Zustand nicht sehen müssen.
Er reinigte das Messer und verstaute es im Cockpit. Mit Handtüchern wischte er das Blut vom Boden auf und stopfte sie in eine Mülltüte, dann säuberte er sich selbst, wischte ihr Blut ab und schrubbte sich die Hände im Waschbecken. Als er zurückkam, lag sie auf dem Bett, den Arm auf das Kissen gestützt und starrte mit glasigen Augen auf das winzige Stück Himmel, das durch die Luke zu erkennen war.
»Annie?«, rief er, doch sie schien ihn nicht zu hören.
Er bläute ihr ein, sich nicht von der Stelle zu rühren, was bei ihrem Zustand ohnehin reichlich unwahrscheinlich war. »Ich rudere jetzt zu den anderen zurück, okay?« Sie reagierte nicht. »Ich bin bald wieder
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