Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
alles war mit einem Mal erträglich geworden. Der Tag lag hinter ihnen, Smudge war unter Deck und schlief, und so sehr er bedauerte, dass Annie Schmerzen leiden musste, war es herrlich, hier oben zu sitzen, am Leben zu sein. Er war regelrecht trunken vom Leben. Er hatte mit angesehen, wie Annie auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod balanciert hatte, und gemeinsam hatten sie dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Und das musste gefeiert werden. Er spürte, wie das Blut durch seinen Körper pumpte, den Rückenwind, der ihn antrieb. Und für einen kurzen Moment fühlte er sich unbesiegbar.
Später schlug die Fieberhaftigkeit in entspanntes Schweigen um, doch keiner von ihnen war müde und wollte unter Deck gehen. Es war besser, oben zu bleiben, an der frischen, klaren Nachtluft. Clem ließ den Blick über die Schwarzschattierungen des Ufers, des Himmels und des Meeres schweifen und spürte bei der Vorstellung, nicht länger an Bord der Little Utopia zu sein, Furcht in sich aufsteigen. Sie war nicht sicher, ob sie bereit dafür war. Ob sie damit zurechtkäme, wieder mit Johnny allein zu sein. Sie waren doch inzwischen eine Familie, eine Einheit. Sie malte sich aus, wie Frank und Annie allein weiterfuhren. Würden sie andere Leute an Bord einladen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie hatte vergessen, wie es war, mit anderen Menschen zusammen zu sein, hatte den Rest der Welt vergessen. Die Welt bestand nur aus ihnen, aus fünf Menschen, als wäre es niemals anders gewesen. Sie mussten warten, bis es Annie besser ging, das musste Johnny einsehen.
»Was ist mit Annie passiert, Frank?«, fragte sie.
»Es dämmert bald«, sagte Johnny. Er wollte nicht über Annie reden. Konnten sie ausnahmsweise über nichts reden? Nur ein einziges Mal? Vielleicht später, in einer Woche oder so, wenn er und Clem die andere Seite der Türkei erreicht hatten, konnten sie darüber reden. Aber jetzt wäre es am besten, sie würden einfach alle den Mund halten.
Frank stieß einen tiefen Seufzer aus und schien über die Frage nachzudenken. »Ich werde euch etwas erzählen, was sie mir einmal erzählt hat«, sagte er dann. »Sie lässt sich nicht davon abbringen, dass sie ihr Leben während ihrer Kindheit als absolut perfekt empfunden hat.«
»Was meinst du damit?«, fragte Clem.
»Das Leben mit ihrem Vater und ihrer Schwester. Genau diesen Begriff hat sie verwendet: perfekt. In ihren Augen fingen die Probleme erst an, als sie acht war und ihre Schwester irgendetwas in der Schule sagte, was das Jugendamt auf den Plan rief. Da merkte Annie zum ersten Mal, dass sie ihrem Vater gegenüber nicht so empfinden sollte. Sie sollte sich als Opfer bezeichnen und ihn als Missbrauchstäter. Die Gesellschaft hatte ein Urteil gefällt: Er war ein schlechter Mensch.«
Sein Tonfall war ganz neutral, als würde er nicht über das tragische Schicksal seiner eigenen Frau sprechen, sondern schildere einer Gruppe Therapeuten ein Fallbeispiel. Seine kühle Distanz löste Unbehagen in Johnny aus.
»Aber sie hat es überhaupt nicht so empfunden. Sie hat ihn geliebt, versteht ihr?«, fuhr Frank fort. »Sie konnte den Begriff Missbrauch nicht mit all den negativen Assoziationen wie Schmerz und Leid in Zusammenhang bringen, weil sie nichts als Liebe und Lust erfahren hatte. Erst da wurde ihr bewusst, dass es ihr moralisch und gesellschaftlich nicht gestattet war, diese Empfindungen zu artikulieren. Sie waren inakzeptabel. Sie lernte, zu schweigen, sich ihrer Gefühle zu schämen. Sie war anders als die anderen, eine Außenseiterin. Schlimmer noch – ein Freak. Das Jugendamt trennte sie und ihre Schwester und steckte sie in verschiedene Pflegefamilien, weit weg von dem Mann, den sie liebten. Ich vermute, dass sie damals anfing, sich gegen die Welt aufzulehnen, Clem.«
Johnnys Blick schweifte hierhin und dorthin, doch er konnte weit und breit keinen Orientierungspunkt entdecken; nichts, woran er sich irgendwie festhalten konnte. »Was willst du damit sagen, Frank? Dass die Gesellschaft den Mund halten soll und dass sexueller Missbrauch eine prima Sache ist?«
Frank lachte. »Ich gebe nur wieder, was Annie mir gesagt hat. Ganz wertneutral.«
Johnny zog am Hauptsegel. War das nicht genau das, was Frank hier, auf der Little Utopia, die ganze Zeit schon tat? Einfach die Gesellschaft aus der Gleichung herausstreichen? Siehst du denn nicht, was er da tut? Er züchtet dich als seinen Nachfolger heran.
»In manchen Kulturen gilt Inzest als absolut akzeptabel, oder
Weitere Kostenlose Bücher