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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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nicht mehr mit ihm allein gewesen und fragte sich, was man einem Mann sagen sollte, dessen Frau gerade versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. »Es tut mir unendlich leid, Frank.« Mehr brachte sie nicht über die Lippen.
    Er bewegte sich nicht, und sein Blick war noch immer starr aufs Meer gerichtet, deshalb war sie nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte.
    »Ja …«, erwiderte er, als versuche er immer noch, den Sinn hinter Annies Tat zu begreifen. »Normalerweise fügt sie sich nicht so tiefe Wunden zu.«
    Am liebsten hätte Clem ihn gefragt, was Annie normalerweise tat, allerdings war diese Frage wohl nicht besonders hilfreich. Wieder und wieder kehrten ihre Gedanken zu der klaffenden Wunde zurück, zu dem Blut, das im Schein der Seitenbeleuchtung geschimmert hatte, zu diesen blicklosen, glasigen Augen. »Ich verstehe beim besten Willen nicht, wieso sie es getan hat …«
    Er wandte sich ihr zu. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Wann immer er sie ansah, schienen die Dinge mehr Sinn zu ergeben. »Das Ironische dabei ist, dass sie sich lebendiger fühlt, wenn sie sich selbst verletzen kann.«
    Auch wenn Clem sich noch so sehr bemühte, es zu verstehen, war es blanker Unsinn. »Sie hat doch so vieles, wofür es sich zu leben lohnt … Sie hat großes Glück … Sie hat alles, wofür viele Menschen ihr Leben geben würden …« Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, wie unsensibel ihre Bemerkung gewesen war.
    »Aber es geht nun mal nicht um das, was man vordergründig besitzt, Clem.« Er streckte seine Beine aus.
    »Aber es ist immerhin etwas«, widersprach sie und blickte zu den Segeln hinauf. Wie gern würde sie ihm glauben. Beim Anblick des vergnügten Funkelns in seinen Augen schöpfte sie neue Hoffnung. »Wenn sie allen Ernstes glaubt, Smudge und du wärt ohne sie besser dran, muss sie verrückt sein.«
    »Das ist eine Meinung, die man dazu haben kann.«
    »Aber eindeutig die falsche.«
    Er lächelte, wenn auch halbherzig. »Da ist es wieder, Clem, dein Richtig und dein Falsch.«
    Sie zog das Hauptsegel zu sich heran, obwohl sie nicht wusste, ob es überhaupt notwendig war, aber es war ein gutes Mittel, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Annie irrte sich. Smudge und Frank waren nicht besser ohne sie dran. Sie verstand nicht, wieso er es nicht einfach zugab. Manchmal musste man nun mal eine klare Meinung zu etwas haben.
    Schweigend segelten sie im Auf und Ab der Wellen dahin. Frank hatte sich ausgestreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Füße fest auf dem anderen Cockpitsitz.
    »Wusstest du, dass in den meisten frühen Zivilisationen Selbstmord als absolut ehrenhaftes Mittel galt, um einer unerträglichen Existenz zu entfliehen?«
    Sie hatte es nicht gewusst, doch sie genoss es, ihn reden zu hören. Es verlieh alldem den Anschein von Normalität. Manchmal wünschte sie sich lediglich, dem Klang seiner Stimme zu lauschen, die ihr Dinge näherbrachte, sie belehrte, ihr eine andere, neue Sichtweise bescherte und so etwas wie Objektivität verlieh.
    »Damals gab es keinen Anlass, den Freitod zu verurteilen«, fuhr er fort und blickte wieder aufs Meer hinaus.
    »Ich will ja gar nicht behaupten, dass Selbstmord generell falsch ist«, sagte sie. »Johnny und ich haben uns mal darauf geeinigt, dass wir, sollte bei einem von uns eine Krankheit im Endstadium diagnostiziert werden, uns ins Auto setzen und die Abgase ins Innere leiten.«
    Doch mittlerweile erschien ihr die Idee ein wenig absurd. Frank musste sie für schrecklich kindisch halten.
    »Wieso denn nicht?«, fragte er lächelnd. »Selbstmord ist eine durchaus tapfere Alternative zu endlosem Leiden.«
    Clem starrte ihn an. Was für eine seltsame Bemerkung angesichts dessen, was gerade vorgefallen war. »Aber was, wenn Annie erfolgreich gewesen wäre? Würdest du dann dasselbe sagen?«
    »Ich glaube nicht, dass sie das wollte.«
    »Aber wäre Johnny nicht an Bord gekommen …«
    »Sie wusste, dass über kurz oder lang jemand an Bord kommt. Es war ein Hilfeschrei.«
    Manchmal ließ ihn seine Objektivität kalt und herzlos erscheinen.
    »Aber weshalb schreit sie nach Hilfe?«
    »Wieso schreien wir nach Hilfe? Weil wir uns nach Trost sehnen …«
    Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frank sich jemals nach Trost sehnte. Und falls doch, müsste derjenige, bei dem er ihn suchte, schon ein Mensch mit ganz besonderen Qualitäten sein. Sie wünschte, sie dürfte ihn nur ein einziges Mal schwach und

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