Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
in Augenschein. Der Absender hatte ihren Namen falsch geschrieben und anschließend korrigiert – das »ie« war durchgestrichen und mit einem »y« überschrieben worden. Offenbar stammte er von jemandem, der sie nicht kannte, was das Ganze noch spannender machte. Sie roch an dem Umschlag. Sein Duft verhieß wichtige Ereignisse.
Sie trug ihn in die Küche, setzte sich hin und starrte ihn an – sie kostete die herrliche Spannung aus, so lange sie nur konnte. Einen Moment lang überlegte sie, zu warten, bis ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kam, aber das würde noch mindestens eine Stunde dauern. Also holte sie den Brieföffner aus Mums Sekretär, der einst ihrem Großvater gehört hatte, und schlitzte ihn ganz vorsichtig auf. Eine dicke Karte mit Goldrand steckte darin. Vorsichtig zog sie sie heraus.
Am oberen Rand stand ihr Name in derselben schlampigen Handschrift, nur dass ihr Name diesmal falsch geschrieben und nicht korrigiert worden war. »James und Elizabeth laden dich zur Taufe von Peter Arthur Steven Todd-Bailey am Samstag, den 27. Juli in der St. Michael’s Church ein. Danach findet ein Empfang in unserem Zuhause statt.«
Im ersten Moment war sie überzeugt, dass es sich um einen Irrtum handeln musste. Sie kannte weder einen James noch eine Elizabeth noch einen Peter Arthur. Aber dann fiel der Groschen. Doch obwohl sie sich darüber freuen sollte, dass Peter bald den Segen Gottes bekommen sollte, konnte sie sich nicht dazu durchringen. Alles, was auf der Karte stand, machte sie bloß unglücklich. James hätte Jim sein sollen, an Elizabeths Stelle ihre Mutter Jackie stehen müssen, und Peter hätte überhaupt nicht darauf vorkommen dürfen. Am schlimmsten aber war das Wort »Zuhause« – Dad hatte ein neues Zuhause, einen Ort, den sie noch nie gesehen hatte, ganz weit weg. Sie befand sich irgendwo am äußeren, kühlen Rand seines Lebens, wohingegen sie früher stets in seinem Mittelpunkt gestanden, dort, wo es warm und behaglich gewesen war.
Sie wusste nicht recht, ob sie ihrer Mum die Einladung überhaupt zeigen sollte. Jackie sollte nicht sehen, dass ihr Vater die Schreibweise ihres Namens vergessen hatte. Sie bezweifelte, dass sie die doppelte Enttäuschung ertragen würde, deshalb versteckte sie die Karte den restlichen Tag unter ihrem Kopfkissen und zog sie erst abends wieder hervor. Mittlerweile kannte sie den Text längst auswendig, die Adresse, den Namen ihres Halbbruders, alles. Am dritten Tag ließ sie sie mit Absicht herumliegen, damit ihre Mutter sie fand. Das heftige Klappern beim Abwasch verriet Clemmie auf Anhieb, dass sie die Karte entdeckt hatte. Am Ende ging sogar eine Tasse zu Bruch. »Zwei Jahre, damit er ist doch schon viel zu groß für eine Taufe«, platzte sie heraus.
Clemmie hatte mittlerweile nachgerechnet und wusste, dass Liz bereits schwanger gewesen war, als ihr Vater sie verlassen hatte. Er hatte sie wegen eines Babys im Stich gelassen, das er noch nicht einmal kannte.
Aus Loyalität ihrer Mutter gegenüber tat Clemmie so, als wollte sie gar nicht zur Taufe gehen, obwohl sie es in Wahrheit kaum erwarten konnte. Sie wollte sehen, wie ihr Vater lebte. Sie wollte Peter sehen, den sie nur einmal im Krankenhaus zu Gesicht bekommen hatte, gleich nach der Geburt, mit einer Windel voll schwarzem Kot. Außerdem wollte sie, dass Liz sie kennenlernte, auch wenn sie das ihrer Mutter niemals verraten würde. Sie wünschte sich, dass sie sie mochte und in ihr Leben integrierte. Insgeheim hatte sie sich sogar schon ausgemalt, wie sie eines Tages zu ihnen zog und sie wie eine glückliche Familie zusammenlebten; wie Clemmie eine große Hilfe war und alle sie mochten. Außerdem gab es noch einen ganz anderen Punkt, der ihr Sorgen bereitete: Sie vergaß allmählich, wie ihr Vater ausgesehen hatte. Da er mit seinem neuen Job und seiner neuen Familie so beschäftigt war, hatte sie ihn seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen. Er schickte ihr zwar zum Geburtstag und zu Weihnachten Karten, und sie telefonierten von Zeit zu Zeit, aber Besuche waren ziemlich schwierig, solange ihre Mutter sich weigerte, mit ihm zu reden. Sie konnte sich an seine Augen und seinen Mund erinnern, an alles andere jedoch nur noch verschwommen – wahrscheinlich weil sein Gesicht auf dem einzigen Foto, das sie von ihm hatte, zur Hälfte hinter seiner Hand verborgen war.
Abgesehen davon gab es noch einen anderen wichtigen Grund, weshalb sie an der Taufe teilnehmen wollte: Mrs Love, Sarahs Mum, hatte gemeint,
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