Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
nicht? Im alten Ägypten war es an der Tagesordnung, Geschwister miteinander zu verheiraten«, warf Clem ein.
Johnny wandte sich ihr zu. Ihre Affektiertheit, die schleimerische Art, wie sie neuerdings krampfhaft versuchte, mit ihrer Weltoffenheit bei Frank Eindruck zu schinden, ging ihm allmählich auf den Geist. Frank fand das natürlich ganz toll.
»Du hast völlig recht«, bestätigte Frank. »In manchen Gesellschaftskreisen war es sogar unerlässlich.«
»Glaubst du also, dass alles eine Frage dessen ist, was gerade als modern gilt?«, hakte Clem nach.
Johnny schüttelte den Kopf. »Annies Vater war ein Kinderschänder, völlig egal, was für verwirrende Gefühle Annie ihm gegenüber gehegt hat. Und die Aufgabe des Gesetzes ist, die Kinder zu beschützen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Er wollte, dass diese Unterhaltung endlich aufhörte. Die beiden sollten aufhören, alles so hinzudrehen, wie es für sie passte.
Aber sie beachteten ihn nicht.
»In unserer Gesellschaft darf man noch nicht einmal andeuten, dass auch Kinder Wesen mit einer eigenen Sexualität sind«, fuhr Frank fort. »Heute gilt das als verwerflicher als noch vor fünfzig Jahren. In Schöne Neue Welt hat Huxley Kinder sogar eine eigens zugewiesene erotische Spielzeit erleben lassen. Habt ihr das Buch je gelesen?«
Clem griff nach dem Tabak und legte lässig einen Fuß auf dem Backbordsitz ab, in der Hoffnung, damit zu kaschieren, dass sie den Titel noch nicht einmal gehört hatte.
»Er wollte damit ein Statement abgeben. Mir ist nicht klar, weshalb die Sexualität von Kindern heutzutage so dermaßen tabuisiert wird, dass man noch nicht einmal darüber reden darf«, sagte Frank und sah Johnny an. »Annie hat nun einmal erlebt, was sie erlebt hat. Sie hat es weder als falsch noch als richtig klassifiziert. Wenn sie es als angenehm empfunden hat, weshalb müssen wir, die Gesellschaft, ihr dann einreden, dass diese Empfindungen falsch waren?«
»Aber was sie getan hat, war ja nicht falsch. Sondern sein Verhalten«, warf Johnny ein, ohne den Blick von der Küste zu lösen. Sie passierten eine Bucht, doch weit und breit war nirgendwo Licht zu sehen. Seine Niedergeschlagenheit wuchs.
»Freud vertrat die Ansicht, dass jedes Kind in das Elternteil des anderen Geschlechts verliebt ist und sexuell Eifersucht gegenüber dem Elternteil des eigenen Geschlechts empfindet.« Frank tippte eine Zigarette aus dem Päckchen.
»Ob das wohl stimmt«, sinnierte Clem.
Johnny fand es abstoßend, wie sie ihr Staunen zu Schau stellte.
»Hast du als Kind jemals sexuelle Eifersucht empfunden, Johnny?«, fragte Frank.
»Nein«, antwortete er und blickte zu den Bergen hinüber, deren Silhouette sich im fahlen Licht der Dämmerung tiefschwarz abzeichnete.
»Es ist aber eine völlig normale Gefühlsregung«, entgegnete Frank. »Vor allem bei Mädchen und ihren Vätern. Wir haben sogar feststehende Begriffe dafür: kleine Prinzessin, Daddys Mädchen …«
Er sah Clem an, die eilig den Blick abwandte. Eine tiefe Verlegenheit überkam sie, als ihr wieder einfiel, dass auch sie einst Daddys kleines Mädchen gewesen war. Und damit nicht genug: Sie musste zugeben, dass sie sich immer einen gut aussehenden, älteren Bruder gewünscht hatte. Natürlich nicht, um mit ihm Sex zu haben, aber ihre Freundinnen sollten davon träumen, mit ihm zu schlafen, was nicht ganz so abseitig war.
»Hier an Bord kannst du alles sagen, was du denkst, Clem. Wir werden dich deswegen nicht verurteilen«, meinte Frank, der wieder einmal genau zu wissen schien, was in ihr vorging.
Als ihr Blick Johnny streifte, war sie sich nicht mehr ganz so sicher. »Im Prinzip wurdest du doch auch missbraucht, Johnny«, sagte sie, als Versuch, die Schuldgefühle von sich zu schieben.
Johnny lachte und blickte zu den Segeln hinauf. »Das war doch kein Missbrauch. Sondern Spaß!«
»Ah!« Die Spitze von Franks Zigarette glühte orangefarben, als er heftig daran zog. »Die große Frage: Spaß oder Missbrauch? Hier wird es plötzlich schwammig.«
In diesem Moment erhob sich eine riesige Welle vor ihnen und schlug mit voller Wucht auf den Planken auf, doch diesmal johlte niemand vor Freude.
Clem entdeckte den makellosen weißen Umschlag mit der krakeligen Handschrift auf der Fußmatte, als sie von der Schule nach Hause kam. Er war an Miss Clemency Bailey adressiert. Ihr Herzschlag begann zu rasen. Abgesehen von Post zum Geburtstag hatte sie noch nie einen Brief bekommen. Sie hob ihn auf und nahm ihn
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