Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
nicht. »Bist du in ihn verliebt?«, wollte er wissen.
Ihr Schweigen sprach Bände. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
»Ach, Johnny, darum geht es doch gar nicht«, sagte sie verärgert, weil er ständig versuchte, alles in Schubladen zu packen, obwohl sie auf dieser Reise zumindest eines gelernt haben sollten: Dinge nicht in Schubladen zu stecken.
»Worum dann?«
Kopfschüttelnd suchte sie nach den richtigen Worten. Es ging darum, andere nicht im Stich zu lassen, sich nicht ausgerechnet dann von ihnen abzuwenden, wenn sie einen am dringendsten brauchten – wenn eine Mutter mehr tot als lebendig unter Deck lag, war es einfach nicht richtig, von einem Moment auf den anderen die Kurve zu kratzen und ihre Tochter zurückzulassen. Ohne jede Vorwarnung. Es war unfair. So durfte man mit anderen nicht umspringen. Sie mussten Smudge behutsam darauf vorbereiten. Natürlich ging es auch um Frank, keine Frage. Vielleicht liebte sie ihn auch, aber nicht auf diese Weise, wie Johnny es sich vorstellte, nicht auf diese banale, schmutzige Art, die Exklusivität verlangte. Abgesehen von ihren Gefühlen für ihn schuldete sie ihm eine gewisse Loyalität, weil er so freundlich zu ihr gewesen war. Doch sie konnte Johnny nichts von alldem sagen, weil sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte. Er würde es nicht verstehen. In letzter Zeit ertappte sie sich immer häufiger dabei, dass sie ihm mit größter Vorsicht begegnete, wie auf Zehenspitzen um ihn herumschlich. Sie hatte das Gefühl, ihre Gedanken für sich behalten, sich selbst zensieren zu müssen, ebenso wie alles, was sie sagte. Manchmal, so wie jetzt, fühlte sie sich, als würde sie ersticken. Sie zog die Knie an und schlang die Arme fest darum.
Johnny starrte auf die Wellen hinaus, auf denen sich die Sonnenstrahlen wie zahllose gleißend helle Diamanten brachen. In diesem Moment wurde ihm mit unerschütterlicher Gewissheit bewusst, dass dieser Augenblick von entscheidender Bedeutung war. Es war einer jener seltenen Augenblicke, die ganz entscheidend für den Fortgang des restlichen Lebens waren.
»Okay, du hast gewonnen«, sagte er schließlich. »Aber in Datça gehen wir von Bord.«
Im Vorschiff war alles still, als sie an Bord zurückkehrten. Johnny ging unter Deck, ließ die Tasche auf den Sessel fallen und sah sich um: Bücher, der Sextant, eine Bürste und Haarspangen lagen überall herum, in der Spüle standen schmutzige Kaffeetassen. Wie vertraut ihm alles war. Er kam sich wie ein Verbrecher vor, der zum Tatort zurückkehrt. Es war sinnlos, von Bord fliehen zu wollen, das war ihm mittlerweile klar geworden. Der andere Johnny, der irgendwo im Wagen neben Banana Cools Bruder saß und eine holprige Straße durch die Berge fuhr, existierte nicht mehr. Es war von Anfang an klar gewesen war, dass er hierher zurückkehren würde, das wusste er inzwischen. Als wäre es vorherbestimmt gewesen. Er sollte auf diesem Boot sein, und jeder Widerstand war zwecklos. Er würde sich seinem Schicksal ergeben, nicht länger dagegen ankämpfen.
Er öffnete die Badezimmertür. Bei Annies Anblick hob sich seine trübe Stimmung ein wenig. Sie saß aufrecht im Bett und sah ihn an. Sein Auftauchen schien sie ein klein wenig zu überraschen, und er glaubte, ein winziges Zucken um ihre Mundwinkel spielen zu sehen, als würde sie versuchen, zu lächeln. Du hast uns also doch nicht im Stich gelassen , schien ihre Miene zu sagen. Unvermittelt musste er daran denken, wie schön es gewesen war, die Verwandlung mitzuerleben, wenn sie gelächelt hatte; wie ihre Augen zu strahlen begonnen hatten, als wäre sie von einem inneren Leuchten erfüllt. Doch obwohl sie bloß noch ein Schatten ihrer selbst war, hatte es zumindest den Anschein, als hätte sie noch nicht jeden Lebenswillen verloren. Er wandte sich ab und schloss die Tür hinter sich. Ich werde gehen Annie, eines Tages, aber nicht heute , dachte er.
Er ging in die Kombüse, und durch die Plexiglasscheibe konnte er Frank sehen, der auf den Knien pfeifend das Deck schrubbte. Clem schien sich nicht daran zu stören; augenscheinlich verschwendete sie keinerlei Gedanken mehr an böse Omen und Unglück an Bord. Sie und Smudge putzten, als wäre alles in bester Ordnung. Smudge dagegen konnte er unmöglich böse sein: Sie kam auf dem Hinterteil die Treppe heruntergerutscht und bot ihm etwas von ihren halb aufgegessenen Rosinen an, schlang die Arme um seine Schenkel und wich ihm nicht mehr von der Seite. Sie half ihm sogar, die
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