Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
fast schüchtern und hielt Gilla fest an ihre Brust gepresst, als fürchte sie, sie könnten ihn ihr entreißen. Das Geklapper von Töpfen und Pfannen drang aus der Küche, begleitet von köstlichen Düften. Die Eindrücke waren schier überwältigend. Seine Sinne würden einige Zeit brauchen, um sich wieder an die Unmittelbarkeit des Lebens an Land zu gewöhnen.
Er trat zu einem pickligen Jungen in einem T-Shirt, auf dessen Vorderseite »Banana Cool« aufgedruckt war. Der Boden schien leicht zu schwanken, als sei sein Körper noch nicht im Einklang mit der Tatsache, dass er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Höchstwahrscheinlich war der Junge in seinem Alter, wirkte jedoch wesentlich jünger. Johnny gestikulierte und deutete um sich, gab Motorengeräusche von sich und wiederholte mehrmals das Wort Datça, um ihm begreiflich zu machen, dass sie eine Möglichkeit suchten, von hier wegzukommen. Der Junge deutete mehrmals auf die Little Utopia und sagte immer wieder dasselbe, bis Johnny begriff: Das Boot war eindeutig die schnellste Transportmöglichkeit. Johnny lachte und schüttelte den Kopf. Vergiss es, Banana Cool . Der Junge zuckte die Achseln und gab ihm zu verstehen, sein Bruder könnte sie am Nachmittag mitnehmen, wenn er unbedingt wollte, schlug jedoch die angebotenen Lira aus. Johnny packte seine Hand und schüttelte sie, um die Vereinbarung zu besiegeln. Das war’s! Sie würden von hier wegkommen!
Vergnügt kehrte er zum Tisch zurück, wo Frank inzwischen mit einem der Türken vom Nebentisch in eine Unterhaltung vertieft war. Der Barmann hatte den Raki auf den Tisch gestellt und schenkte drei großzügige Gläser ein. Clem sah ihm zu, Smudge dicht neben sich, die argwöhnisch Ausschau nach den beiden kleinen Jungen hielt.
»Komm schon, Johnny«, sagte Frank. »Ein Absacker zum Abschied.«
Smudge stand auf und machte sich auf die Suche nach den Jungen.
Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, ihren Abschied groß zu feiern, aber im Grunde hatte Frank recht – ein letztes gemeinsames Glas, ein anständiges Lebewohl. Nun, da sie nur wenige Stunden vom endgültigen Aufbruch trennten, war sein Herz großmütig und weit. Wie passend, dass ihr Abenteuer mit Raki enden würde – damit schloss sich der Kreis ihrer Reise auf der Little Utopia. So viel Zeit schien seit jener Gewitternacht vergangen zu sein. Er setzte sich hin, nahm ein Glas und stieß mit Frank an.
»Auf Gewitterstürme«, sagte er.
»Auf Gewitterstürme«, echoten Frank und Clem.
Der Raki brannte angenehm in der Kehle.
»Sie sagen, die Straße sei eng und gefährlich«, erklärte Frank. »Auf dem Seeweg seien es dagegen nur rund hundert Meilen um die Landzunge herum …«
Johnny wusste es ebenfalls, doch es war ihm egal. Lächelnd prostete er Banana Cool zu, der drüben an der Bar stand. »Ach, wir haben schon alles festgemacht.« Er streckte die Beine aus und ließ sich von den Geräuschen rings um ihn herum einlullen: dem Klappern von Tellern auf den Holztischen, den türkischen Wortfetzen. Wie im Himmel. Bald würden sie sich in ihr neues Abenteuer stürzen. Er kippte noch ein Glas hinunter.
Sein Blick fiel auf Smudge in ihrem Kleidchen und ihren Socken, die inzwischen mit den Jungs am Holzgeländer spielte. Milde gemacht vom Raki, wurde ihm bewusst, wie lieb er sie gewonnen hatte. Seine Schlüsse waren schlicht und einfach falsch gewesen. Sie war ein glückliches Kind. Und sie würde ihm fehlen, trotzdem war es ein überschaubarer Preis dafür, dass sie ihr altes Leben zurückbekämen. Er sah zu Clem hinüber, deren Blick ebenfalls voller Wehmut auf der Little Utopia ruhte.
Als er den Gastraum durchquerte, um zur Toilette zu gehen, schien die Bar ein wenig heftiger zu schwanken, und diesmal konnte er es nicht ausschließlich darauf schieben, dass er lange Zeit nicht mehr an Land gewesen war. Er war ziemlich betrunken. Genauso wie Frank. Als er zurückkam, schilderte Frank gerade in leuchtenden Farben, welche Orte er bald ansteuern würde – Syrien, den Libanon, dann weiter in Richtung Afrika, nach Ägypten, weil er Smudge unbedingt das Reich von Alexander dem Großen, dem bedeutendsten General aller Zeiten, zeigen wollte. Einer murmelte etwas von Atatürk, woraufhin einige Männer lachten. Frank sprach von Libyen und Marokko, davon, wie sie eines Tages nach Tanger und von dort aus weiter nach Spanien fahren würden. Und Johnny wurde das Gefühl nicht los, dass er es für sie tat, um sie zurück an Bord zu locken. Er lachte.
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