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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Finger um ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Was hast du vor? Was auch immer es ist, du musst Smudge da raushalten.«
    Diesmal wich sie seinem Blick nicht aus. »Du hast ja noch nicht mal in den Schrank gesehen«, flüsterte sie. In ihren Worten schwang keinerlei Vorwurf mit, sondern nur abgrundtiefe Erschöpfung und Resignation. Dann ließ sie sich wieder auf die Matratze fallen und rollte sich wie ein Baby zusammen.
    Er hielt einen Moment inne und betrachtete die weichen Härchen in ihrem Nacken, dann stand er langsam auf und knipste die Badezimmerlampe an. Er ging auf die Knie und öffnete die Schranktüren. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wonach er überhaupt suchte. Die Deckenlampe spendete nicht genug Licht, deshalb schaltete er das Licht über dem Waschbecken an. Im Schrank standen allerlei Medikamente und Plastikflaschen: Shampoo, Sonnenschutzmittel, diverse Cremes und Lotionen. Er nahm die beiden Verbandskästen heraus, den benutzten und den verschlossenen, der vermutlich Annies Medikamente enthielt. Frank hatte ihn nur abgeschlossen, damit Annie sich nichts antun konnte. Dann tastete er das Innere ab, doch da war nichts. Er spähte hinein. Ganz hinten, zwischen der Schrankrückwand und dem Bootsrumpf klemmte etwas Rotes, Stoffartiges. Er streckte die Hand danach aus. Offenbar handelte es sich um eine Art Buch. Er zog es heraus und hielt es in den Lichtkegel der Lampe über dem Waschbecken.
    Es war nur ein altes Buch mit dem in Goldbuchstaben eingeprägten Titel auf dem Rücken: Gullivers Reisen . Er schlug es auf und begann zu blättern, fand jedoch nichts Auffälliges.
    Und dann sah er das, was sie ihn hatte sehen lassen wollen. Ganz hinten, am Ende des Buches. Eine Woge der Übelkeit stieg in ihm auf, während ihm ein Gedanke kam: Um ein Haar wären sie – er und Clem – noch einmal davongekommen. Um ein Haar.
    Clem lag auf dem Bett in der Kajüte, die tief und fest schlafende Smudge an ihrer Seite. Sie hörte ihn oben an Deck mit den Segeln hantieren, das gewohnte Quietschen, Rumpeln und Knarzen eines Segelboots. Johnny hatte darauf bestanden, dass sie und Smudge unter Deck gingen. Doch sie fand keinen Schlaf. Ihre Gedanken wollten einfach nicht zur Ruhe kommen, sondern schweiften hierhin und dorthin, ließen wieder und wieder die Ereignisse des Tages vor ihrem inneren Auge ablaufen, ohne je einen Sinn zu ergeben. Am Nachmittag hatte sie durch die offene Luke einen Blick auf die im Vorschiff schlafende Annie erhascht und auf den leicht zerfledderten, gräulich verfärbten Verband mit den bräunlichen Flecken von getrocknetem Blut. Sie hatte sich mit ihrem Block neben die Ankerluke gesetzt, den Blick über den Horizont schweifen lassen und darüber nachgedacht, was sie zeichnen wollte. Den Mast mit dem im Wind gebauschten Segel? Die schlafende Annie? Oder Johnny und Frank im Cockpit – Frank wie üblich die Nase in einem Buch und Johnny, der die Segel im Auge behielt oder auf die Endlosigkeit der See hinausblickte? Am Ende hatte sie sich für das Segel entschieden. Sie hatte ihren Zeichenblock aufgeschlagen, ihre Stifte gespitzt und sich an die Arbeit gemacht. Nach einer Weile hatte Frank den Kopf durch die Vorschiffluke gestreckt und ihr eine Tasse gesüßten Tee gereicht. »Lass mal deine Zeichnung sehen«, hatte er gesagt. Sie hatte den Block so gedreht, dass er ihr Werk in Augenschein nehmen konnte. Sie war ziemlich zufrieden damit – das Blau des Wassers, das weiße Hauptsegel, die Schatten an der Spitze, wo es leicht nach luv ragte. Johnny hätte das nicht gefallen, aber sie hatte herausarbeiten wollen, dass Unvollkommenheit zum Leben dazugehörte. Frank hatte gelächelt und anerkennend genickt. Offenbar war er beeindruckt von ihren Fähigkeiten gewesen. Er hatte ihr den Block zurückgegeben, wobei seine Hand sich für einen kurzen Moment verstohlen um ihre Finger gelegt hatte. »Beinahe hätte ich dich verloren, Clem«, hatte er leise zu ihr gesagt, und sie hatte gespürt, wie sich ihr Herz zusammengezogen hatte, atemlos von seiner Nähe. Sie hatte zu Johnny hinübergesehen, der am Ruder saß, und hatte nur hoffen können, dass Annie immer noch fest schlief und ihn nicht hören konnte. »Ich will nicht, dass so etwas noch einmal passiert«, hatte er hinzugefügt. Beim Anblick seiner dunklen Augen, die sich, ernst und eindringlich, in die ihren gebohrt hatten, war es mit einem Mal gleichgültig gewesen, ob Annie sie hören konnte oder nicht. »Ich will, dass wir an Bord dieses Boots

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