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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Normalität zu erwecken. Die heiße Süße des Tees schien sie ein wenig aus ihrer Erstarrung zu lösen. Plötzlich begannen die Tränen zu fließen. Sie wischte sie nicht ab, sondern wandte sich ab und rollte sich mit dem Gesicht zur Schiffswand zusammen. Er hatte keine Ahnung, was er erwartet hatte, doch er kam sich wie ein Verräter vor, weil er sie einfach im Stich lassen würde. Aber es ging nicht anders. Er drückte ein letztes Mal ihre Seite, dann stand er auf und ging hinaus.
    Das Dorf war winzig, vielleicht zwanzig Häuser oder so. Direkt am Ufer gab es ein Café, ein rot gestrichenes Holzhäuschen mit Kletterpflanzen, die die Balken überwucherten. Für Johnny war es der schönste Ort, den er je gesehen hatte. Eine schmale Straße wand sich hinter dem Dorf hinauf in die Berge. Bestimmt gab es hier Leute mit Autos, die sie mitnehmen konnten. Ein Grüppchen Männer hatte sich am Ufer versammelt und sah zu, wie die Little Utopia näherglitt.
    Fünfzig Meter vor der Bucht warfen sie den Anker aus. Es war ein seltsames Gefühl, sich für die Abreise bereit zu machen, sich zu waschen und anzuziehen, sich das Haar zu kämmen, die Zähne zu putzen, in die Schuhe zu schlüpfen, um der Zivilisation entgegenzutreten. Sie kamen sich wie Fremde vor. Auch Smudge hatte sich in Schale geworfen. Sie trug ein Kleid unter ihrer Captain-Hook-Jacke und hatte Socken übergestreift, da sie ihre Schuhe nirgendwo finden konnte. Sie saß in der Kajüte und sah ihnen beim Packen zu. Als sie in Tränen ausbrach, kam Frank herunter und nahm sie mit nach oben an Deck.
    Johnny verstaute seine wenigen Habseligkeiten in der roten Segeltuchtasche, während Clem ihre Schlafsäcke zusammenrollte und ebenfalls hineinstopfte. Sie suchte all ihre Streichholzschachteln mit dem Krimskrams ein, die sie am Strand gefunden hatte, ehe sie die Kabine durchquerte, um sich von Annie zu verabschieden. Ein Anflug von Traurigkeit lag in der Luft. Nun, da der endgültige Aufbruch unmittelbar bevorstand, versuchte Johnny, so etwas wie Zuneigung für den alten Kutter zu empfinden, mit Wehmut an das eigentümliche Abenteuer zurückzudenken, das sie an Bord erlebt hatten, doch er konnte nicht leugnen, dass er innerlich jubilierte.
    Zu viert kletterten sie ins Beiboot, in dem sich trotz der Flaschenkorken immer noch das Wasser sammelte. Johnny übernahm die Ruder. Er fühlte sich stark wie ein Ochse, als könnte er stundenlang rudern. Obwohl sein Blick auf die kleiner werdende Silhouette der Little Utopie gerichtet war, konnte er an nichts anderes denken als an das Land, dem sie sich mit jedem Ruderschlag weiter näherten. Clem saß vor ihm, dunkelbraun gebrannt und mit von der Sonne gebleichtem Haar, als wäre sie ins Sonnenlicht getaucht worden. Sie hatte die rote Tasche auf dem Schoß, hielt Smudges Hand und bemühte sich, sie aufzumuntern, indem sie ihr versprach, dass sie einander alle eines Tages wiedersehen würden, vielleicht in Afrika oder sonst irgendwo. Aber die Aussicht schien Smudges Stimmung nicht zu heben. Sie wollte nicht nach Afrika, sondern hierbleiben, mit ihnen. Plötzlich war sie untröstlich bei der Aussicht auf den baldigen Abschied. Clem legte den Arm um sie und begann ebenfalls zu weinen, während Johnny mit seinem schlechten Gewissen rang, weil er es ihr nicht schonender beigebracht hatte.
    Das Café befand sich im Schatten einiger Bäume ein Stück oberhalb des Ufers. Es gab fünf oder sechs Holztische, eine Bar, und an der Wand hing das obligatorische Foto von Kemal Atatürk. Der Wirt, ein kleiner, feister Kerl, empfing sie mit überschwänglicher Begeisterung. Er drückte ihnen herzhaft die Hände, gestikulierte wild und kniff Smudge liebevoll in die Wangen. Der Geruch nach in Fett gebratenem Knoblauch und Fisch hing in der Luft. Er führte sie die in den Fels gehauenen Stufen hinauf und in den Gastraum. Frank machte ihm begreiflich, dass er nicht bleiben würde, sondern nur ein wenig Proviant brauchte. Unaufgefordert holte der Barmann eine Flasche Raki und ein paar hohe, schlanke Gläser hervor und bedeutete Johnny, sich mit Clem und Smudge an einen der Tische zu setzen.
    Johnny blickte sich um. Aus sämtlichen Ecken tauchten Männer auf und scharten sich um die restlichen Tische, als wäre ihr Erscheinen eine kleine Sensation und ein perfekter Vorwand zum Feiern. Zwei kleine Jungs bauten sich vor Smudge auf und starrten sie ungeniert an. Johnny hatte sie noch nie im Kontakt mit anderen Kindern erlebt. Zu seinem Erstaunen wirkte sie

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