Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Seile aufzuwickeln. Zwar machte sie es verkehrt, doch das spielte keine Rolle. Johnny schien der Einzige an Bord zu sein, der Trübsal blies. Alle anderen sangen und pfiffen und freuten sich des Lebens. Er musste es akzeptieren. Vielleicht war es ja für Smudge am besten so. Sie würden sie erst zurücklassen, wenn sie sie behutsam auf den Abschied vorbereitet hatten. Er fragte sich, ob Clem die Wahrheit gesagt hatte – dass es ihr in erster Linie um Annies und Smudges Wohlergehen ging. Sosehr er es verabscheute, falschzuliegen, musste er zähneknirschend eingestehen, dass es vernünftiger war, das letzte Stück mit dem Boot statt auf einer holprigen Straße zurückzulegen. Er war stur gewesen und hatte die Schlacht verloren. Sie mussten bestenfalls noch zwanzig Stunden auf dem Boot verbringen, mehr nicht. Er würde sich einen weiteren Tag lang mit Frank arrangieren, in der Gewissheit, das sie in Datça den Bus nach Osten nehmen und nach Kappadokien fahren, nach Göreme oder sonst einen Ort, und von dort weiter trampen würden. Noch ein Tag.
Am späten Nachmittag lichteten sie den Anker. Eine leise Brise wehte. Johnny schwieg. Es gab nichts zu sagen. Er übernahm das Ruder, heilfroh, dass jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, döste, las, Kaffee trank und keinerlei Erwartungen an ihn hatte, außer dass er die Little Utopia durch das Gewässer steuerte. Frank schien keinerlei Groll gegen ihn zu hegen. Offenbar stieß er sich weder an ihrem Wortwechsel im Café noch an seinem Schweigen jetzt. Es war völlig unmöglich, diesen Mann aus der Reserve zu locken. Johnny lauschte Frank und Clem, die über Annie sprachen. Frank wollte die Beruhigungsmittel langsam herunterfahren und hatte bereits Medikamente für Annie bestellt, die postlagernd geliefert werden würden. Irgendwann zog Clem ihr Skizzenbuch heraus und setzte sich an den Bug, während Johnny seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Ziel richtete – die Little Utopia so schnell wie möglich nach Datça zu bringen.
Fünfzig Meilen und einige Stunden später war der Mond aufgegangen und warf silbrige Streifen auf die Wellen, während das Boot mit steten vier Knoten dahinglitt. Johnny ging unter Deck, um den Spinnaker aus dem Schrank im Vorschiff zu holen. Leise klopfte er an die Tür, in der Annahme, dass Annie schlief. Doch sie saß – in wässrig-ätherisches Licht getaucht – im Schneidersitz auf dem Bett und blickte durch die offene Luke, durch die ein feiner Gischtnebel hereinwehte.
»Entschuldige, Annie, ich dachte, du schläfst. Ich muss an den Schrank.«
Langsam löste sie den Blick von der Luke und sah ihn an – unter den zahlreichen Schichten der Traurigkeit war deutlich zu erkennen, dass sie nicht länger völlig neben sich stand. Sie rückte sogar ein Stück zur Seite, damit er aufs Bett klettern und die Klappe öffnen konnte. »Wahrscheinlich werde ich das Segel gar nicht brauchen, aber ich will es trotzdem sicherheitshalber parat haben. Wenn wir das Ende der Landzunge erreichen, können wir hübsch Fahrt aufnehmen und noch schneller nach Datça kommen.«
Als er sich wieder aufsetzte, spürte er etwas Hartes an seinen Knien. Er tastete herum und zog zwei Tabletten hervor, eine rote und eine gelbe. Er hielt sie Annie hin, die sie ihm aus der Hand nahm und mit einem flüchtigen Blick in Richtung Tür hinter sich unter die Matratze schob.
»Wofür bunkerst du die?«, fragte er.
Sie sah ihn betreten an, dann öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Laut drang über ihre Lippen, als koste es sie zu viel Kraft.
Johnny rückte etwas näher. »Was willst du mir sagen?«, fragte er.
»Ich will …« Ihre Stimme war kaum hörbar.
Er beugte sich noch näher, sodass er ihren Atem auf seiner Wange spürte, trotzdem kamen die Worte nicht über ihre Lippen.
»Wofür, Annie?«
»Ich will sterben«, hauchte sie und wandte den Blick ab.
Er nahm ihre Hand und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Sag doch so etwas nicht, Annie. Das darfst du nicht. Denk an Smudge.«
O Gott , dachte er, auch wenn ihm bewusst war, wie egoistisch es war. Bitte, erhol dich wieder. Wir werden dich verlassen. Du musst wieder auf die Beine kommen .
»Smudge.« Der Anflug eines Lächelns spielte um ihre Lippen, doch es war ein Lächeln ohne jede Freude. Sie blickte wieder durch die Luke und starrte trübselig den Mond an. »Smudge ist das Einzige, woran ich denken kann.«
Etwas an der Art, wie sie es sagte, machte ihm Angst. »Annie.« Er legte die
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