Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Messingknauf und öffnete sie. Würde Pfeifen an Bord eines Boots nicht Unglück bringen, hätte er einen Pfiff ausgestoßen. So beschränkte er sich jedoch darauf, die Lippen zu schürzen. Die Kabine war riesig – weißer Teppichboden, so weit das Auge reichte und ein überbreites Bett mit massenweise roten Satinkissen. Auf der Backbordseite grenzte ein Badezimmer mit glänzenden goldenen Wasserhähnen, einer Badewanne und einer offenen Dusche an. Der einzige Hinweis, dass sie sich auf einem Schiff und nicht in einem Hotelzimmer befanden, war der Ausblick durch das Bullauge auf den Hafen.
Clem stürzte zum Bett, warf sich mit dem Gesicht voran auf die Matratze und strampelte begeistert mit den Beinen. »Ein richtiges Bett!«, rief sie mit von den Satinkissen gedämpfter Stimme. Es war eine halbe Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal in einem anständigen Bett geschlafen hatten. Das Gras unter ihren Schlafsäcken war längst platt gedrückt, und nach ein paar Nächten im überhitzten Zelt hatte die Campingromantik ihren Reiz verloren.
Johnny schlüpfte aus seinen Turnschuhen und ließ sich neben ihr auf den Rücken fallen. Ein, zwei Minuten lang lagen sie reglos da, als wollten sie auf der Stelle einschlafen, doch dann fuhr er mit den Fingern den Schwung ihrer Hüfte nach, ließ seine Hand an ihrem Arm emporwandern, über die von der Sonne gebleichten Härchen, ihre Haut mit diesem sattgoldenen Honigton, den er noch nie an einem anderen Menschen gesehen hatte. Er konnte einfach nicht die Finger von ihr lassen.
»In einer der Kisten …«, sagte sie, hob die Beine an und streifte mit einer raschen Bewegung ihre Jeans und ihr Höschen ab, »lag ein Kleid, das dreitausend Dollar gekostet hat. Das Preisschild war noch dran. Wie kann jemand dreitausend Dollar für ein Kleid ausgeben?«
Johnny zog ihr das T-Shirt über den Kopf und strich zärtlich mit den Lippen über ihre Brustwarzen. »Überleg bloß mal, was wir mit so viel Geld anstellen könnten …«, sagte er. »Wir könnten uns ein eigenes Boot davon kaufen. Die tolle doppelendige 20-Meter-Ketsch mit Teakdecks und allem Drum und Dran. Wir würden den Pazifik überqueren, hinfahren, wo wir wollen … und wann wir wollen.«
Sie lächelte ihn an. Manchmal schmerzte ihr Herz vor all der Liebe, die sie für ihn empfand. Keiner von ihnen hatte geahnt, dass man einen anderen Menschen so sehr lieben konnte. Und das Allererstaunlichste war, dass ihre Liebe immer weiter wuchs. Sie schien endlos zu sein, ohne Grenzen. Sie fühlte sich wie eine Astronautin, die in einer Blase der Liebe schwebte. Behutsam drückte sie ihm einen Kuss auf den Kopf und strich durch sein vom Salzwasser wild abstehendes Haar.
»Ich würde Fische für dich fangen«, fuhr er fort, setzte sich auf und küsste sie auf den Mund. »Und tauchen. Nach Perlen oder Seeschwämmen.«
Sie war daran gewöhnt, dass er sie umgarnte, ihr zu Füßen lag. Es war gewissermaßen an der Tagesordnung. Inzwischen war das Leben vor der Zeit ihres Wiedersehens unwichtig geworden, zu einer vagen Erinnerung verblasst. Seit jenem Abend, als sie knutschend in einer Zelle des Polizeireviers von Putney gesessen hatten, waren sie unzertrennlich. Sie war in sein Apartment in einem Hochhaus in Roehampton gezogen, und im selben Maß, wie ihre Gefühle für ihn tiefer geworden waren, hatte sich die Kluft zwischen ihr und ihrer Mutter vergrößert. Sie hatte ihn nicht leiden können und befürchtete, dass er nie einen anständigen, gut bezahlten Job finden würde, was exakt der Grund war, weshalb Clem ihn so mochte – in Wahrheit war es nur der Beweis dafür, dass ihre Mutter keine Ahnung hatte, was in ihrer Tochter vorging, dass sie unbeschreiblich engstirnig und in ihrer Welt gefangen war und niemals in der Lage sein würde, irgendetwas zu hinterfragen oder über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Natürlich konnte Clem ihr das nicht ins Gesicht sagen. Schließlich wusste sie, wie schwer es ihre Mutter im Leben gehabt hatte, wie tief sie enttäuscht worden war. Sie hatte sogar ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie so etwas Gemeines von ihr dachte, obwohl ihre Mutter doch ihr ganzes Leben lang für sie da gewesen war; auch jetzt noch, da sie Johnnys Gegenwart der ihren vorzog. Und so war Johnnys Familie zu ihrer Familie geworden. Sie liebte sie heiß und innig. Die Loves hatten Clem mit offenen Armen aufgenommen. Wann immer sie bei seinem Vater übernachteten, kam er morgens mit einer Kanne Tee in ihr Zimmer und
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