Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
reichlich beeindruckender Stücke und tat stets so, als würde sie bloß die Lust verlieren oder sie irgendetwas ablenken, um nicht weiterspielen zu müssen, bevor der heikle Teil des Stücks kam. Sie genoss es, die Illusion ihres außerordentlichen Talents zu erschaffen, und im Gegensatz zu den meisten anderen durchschaute Johnny ihr Spielchen.
Charlie, der auf dem oberen Deck stand, schien angemessen beeindruckt zu sein. Er hielt nach anderen Booten Ausschau und bellte den Jungs auf dem Achterdeck von Zeit zu Zeit über das Mikrofon irgendwelche Befehle zu. Seine Stimme drang klar und deutlich aus dem Lautsprecher neben Johnny, der nacheinander Kisten und Kartons aufriss. Er konnte immer noch nicht recht glauben, dass sie den Hausrat tatsächlich gleich über Bord befördern würden; vielmehr rechnete er jeden Moment damit, eine neue Meldung des Bosses zu bekommen, dass alles nur ein Scherz gewesen sei – schließlich kippte kein Mensch, der halbwegs bei Trost war, Habseligkeiten im Wert von mehreren Millionen Pfund ins Meer. Eine Kiste bereitete ihm besonders Kopfzerbrechen: Sie enthielt einen nagelneuen Schiffskompass und ein Satellitennavigationssystem, die beide ein kleines Vermögen wert waren. Er hatte Charlie darauf aufmerksam gemacht, doch der hatte nur gemeint: »Super, die werden wie ein Stein sinken.« Johnny hatte protestiert. »Aber in dem Telegramm war ausdrücklich von allen Sachen die Rede, Jonathan. Du hast es selbst gelesen. In Fethiye wartet schon die Polizei auf uns, und mit den türkischen Bullen ist nicht zu spaßen, das kann ich dir versichern. Hast du Midnight Express gesehen?«, wollte Charlie wissen.
Midnight Express und Lokum waren so ziemlich das Einzige, was Johnny und Clem mit der Türkei in Verbindung gebracht hatten, als sie vor sieben Wochen hierhergekommen waren; inzwischen kam es ihnen wie eine halbe Ewigkeit vor. Sie waren auf einem Fischerboot mitten in der Nacht von Naxos herübergekommen und hatten die gelben Lichter des Hafens von Bodrum blinken sehen, lange bevor die kleinen weißen Häuser zu erkennen gewesen waren. Anfangs war ihnen alles ziemlich fremd vorgekommen: die weiße Moschee, das Kastell direkt am Wasser, der Duft nach frisch gebackenem Brot, vermischt mit der durchdringenden Süße der Blumen, das Gejaule vom Kirchturm um fünf Uhr morgens, mit dem der Muezzin ganze Horden von Männern zum Gebet rief, und die Tatsache, dass weit und breit keine Frau auf der Straße zu sehen war. Erst als sie durch die Stadt gegangen waren, war ihnen bewusst geworden, dass Europa hinter ihnen lag und sie sich auf einem anderen Kontinent und noch dazu in einem muslimischen Land befanden. Abgesehen von dem Typ aus der Kebab-Bude in Hammersmith und dem Alten aus Johnnys Hochhaus, der sich weigerte, den Lift zu benutzen, hatte keiner von ihnen jemals wissentlich einen Türken gesehen.
Johnny machte sich wieder an die Arbeit, während die Sonne achtern hinter der Steuerbordseite verschwand. Der Himmel war von rosa und violetten Streifen überzogen, die sich wie Krallen durch das endlose Blau schnitten. Charlie hatte angeordnet, dass sämtlichen Kisten und Kartons noch vor der Dunkelheit sortiert sein sollten, deshalb zogen sie das Tempo an. Clem hatte in einer der Harrod’s-Kisten massenweise Bettzeug entdeckt und schlug vor, die Bettbezüge als Säcke zu benutzen, was sich als ziemlich gute Idee entpuppte. Sie sortierten alles nach dem Gewicht und danach, wie es sich am besten in den Säcken verpacken ließ. Einen schweren Goldspiegel rollten sie in einen Teppich ein und stopften ihn gemeinsam mit einem Stapel Bücher in einen Bettbezug; die Statue banden sie an den Mahagonitisch, von dem sie die Beine abgeschraubt hatten. Sie schlitzten zwei Rettungswesten auf, zerrten die Füllung heraus und schlangen sie um die Statue, in der Hoffnung, dass sie dadurch besser sinken würde. Johnny schwang den Schiffskompass auf das Klavier und verstaute ihn mit so viel Besteck unter dem Deckel, wie er nur finden konnte. Irgendwann stieß er auf einen nagelneuen Außenbordmotor, den er in einen Schrank voller Hüte und diversen Ledersachen wuchtete.
Clem hatte Mühe, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Ständig entdeckte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Johnny verstand nur allzu gut, dass es die reinste Hölle für sie war. Clem gehörte zu den Menschen, die am liebsten alles aufbewahrten und selbst den überflüssigsten Krempel bunkerten. In der riesigen Tasche, die Johnnys
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