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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Vater aus dem Segel eines der berühmten Cornish Crabber angefertigt hatte, fand er regelmäßig glatt gestrichene Bonbonpapierchen, leere Streichholzschachteln, hübsche Kieselsteine, Aschenbecher und sonstigen Krimskrams. Die Tasche besaß zahllose Fächer, die Clem als eine Art mobiles Museum benutzte, das Johnny für sie durch die Gegend schleppte. Und nun stand sie in einer viel zu weiten Lederhose an Deck und schlang Schmuck um das Geweih eines ausgestopften Elchschädels.
    »Es geht alles mit, Clem«, drang Charlies Stimme aus dem Lautsprecher. »Wenn die auch nur ein einziges Kaugummipapierchen finden, nehmen sie uns komplett auseinander. Alles muss ins Meer.«
    Als es dunkel war und lediglich der Mond das Deck erhellte, da Charlie die gesamte Navigationsbeleuchtung, einschließlich des Radars abgeschaltet hatte, ließen sie sich völlig geschafft und mit schmerzenden Armen und Beinen auf das Deck fallen, inmitten von vollgestopften Bettbezügen, und warten darauf, dass Charlie das Signal zum Loslegen gab. Johnny lehnte sich mit dem Rücken gegen den Kleiderschrank, Clem lag neben ihm, den Kopf auf seinem Schoß und die Beine gegen die Kommode gestützt. Sie teilten sich eine Zigarette. Clem schlang beiläufig ein Bein um Johnnys und hob den Kopf, um zuzusehen, wie die letzten minzgrünen Tageslichtstrahlen verschwanden und die Sterne zu funkeln begannen. Johnny streichelte ihr Bein und reichte ihr die Zigarette, während das stete Schwanken des Bootes sie einlullte.
    Die Stille riss sie aus dem Schlaf. Klatschend schlugen die Wellen gegen den Schiffsrumpf. Eine Bö war aufgekommen. Charlies knappe Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Radar abgeschaltet, Motor ausgeschaltet. Navigationsbeleuchtung ausgeschaltet. Keine anderen Schiffe weit und breit. Los geht’s!«
    Laute, getragene Orchesterklänge ertönten. Verblüfft sahen Clem und Johnny zu Charlie hinauf. »Verdis Requiem«, erklärte er und bedeutete ihnen, sich an die Arbeit zu machen.
    Das Boot schwankte heftig auf den Wellen. Johnny löste die Drahtabsperrung zwischen den beiden hölzernen Pfosten achtern, dann ging er zurück, um den ersten Sack zu holen. Er enthielt den Bootsmotor, den Großteil des Schmucks und den goldenen Spiegel – das Ding würde wie ein Stein untergehen. Sie packten ihn jeweils an zwei Zipfeln und zerrten ihn quer übers Deck an die Heckkante.
    »Okay, Clem«, sagte er.
    Langsam hoben sie den Sack an und fingen an, ihn immer höher zu schwingen, während die Musik um sie herum weiter anschwoll. »Eins, zwei, drei …«
    Sie ließen los und sahen zu, wie der unförmige Sack durch die Luft flog und wenig anmutig im Wasser landete. Wie auf Kommando stürzten sie zur Reling und beugten sich vor, um zuzusehen, wie das formlose Ungetüm einen Moment lang auf dem Wasser trieb, ehe die See es langsam schluckte und in die endlose Tiefe hinabzog – mindestens zwanzig Riesen wert, mit einem gewaltigen salzigen Schluck vertilgt.
    Sie starrten einander an, gleichermaßen entsetzt und fasziniert von der Surrealität der Situation. Was sie hier taten – auf Recht und Ordnung zu pfeifen, zu tun, was sich niemals jemand trauen würde, der Welt schamlos den Stinkefinger zu zeigen –, war so absurd und grundverkehrt, dass es sich schon wieder richtig anfühlte.
    »Noch mal!«, sagte sie. »Lass es uns noch mal tun.« Dieses Gefühl muss ich mir unbedingt merken , dachte sie. Ich darf nie vergessen, zu hinterfragen, was richtig und falsch ist . Doch in derselben Sekunde war ihr klar, dass sie es schon bald wieder vergessen haben würde.
    Sie machten sich an den nächsten Sack, der eine schwere Marmorlampe und all die silbernen Kerzenleuchter enthielt, die sie in das Dreitausend-Dollar-Kleid – an dem noch immer das Preisschild hing – eingeschlagen hatten. Sie hoben ihn an, schwangen ihn ein paar Mal hin und her, zählten bis drei und ließen los. Wieder rannten sie zur Reling und beobachteten, angestachelt vom schieren Wahnsinn ihres Tuns, wie er unterging. Inzwischen wurde an Bord in einer völlig neuen Währung gezählt – nicht der Wert der Gegenstände war maßgebend, sondern ihr Gewicht. Stein sank besser als Silber, und dies war das einzige Kriterium, das zählte. Letzten Endes war alles nur teurer Plunder, den ein nasses Schicksal in den Tiefen des Mittelmeers erwartete. Clem legte einen wilden Freudentanz aufs Parkett. »Wir sind frei, Johnny«, rief sie. »Wir sind frei!« Noch nie hatte sie sich so schwerelos gefühlt.
    Mit

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