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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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wohingegen der Großteil von Clems Zeug noch im Zelt lag. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie auch weiterhin mit so leichtem Gepäck reisen.
    Clem hatte auf der Fahrt ein Schnäppchen gemacht und war bester Dinge. Nicht einmal eine Stunde, nachdem sie losgefahren waren, hatte der Fahrer am Straßenrand angehalten, um einen Stapel Teppiche mitzunehmen. Durchs Fenster hatte Johnny zugesehen, wie sich der Teppichstapel erhoben hatte und scheinbar ohne fremde Hilfe eingestiegen war. Er hatte die Treppe erklommen und war bis ganz nach hinten gegangen, wo sie saßen. Johnny hatte innerlich gestöhnt: Touristen waren wie ein Magnet für die fliegenden Händler. Der Bus war bis auf ein paar alte Frauen und einen lüsternen alten Sack ein paar Reihen vor ihnen leer gewesen. Der Teppichstapel kam zum Stehen und ließ sich auf den Sitz neben Johnny in der hintersten Reihe sinken. Er erhaschte einen Blick auf eine wettergegerbte Hand und ein dunkles, von tiefen Furchen umgebenes Auge unter den zahllosen Teppichschichten. Und los geht ’ s.
    »Englisch?«, drang eine Stimme unter dem Stapel hervor, als der Bus mit dröhnendem Motor über die von Schlaglöchern übersäte Straße holperte. Johnny tat so, als hätte er nichts gehört.
    »Amerika?«, fragte die Stimme weiter, während die Teppiche an seinem Arm entlangstreiften und ihm ein moschusartiger, jedoch keineswegs unangenehmer Geruch in die Nase stieg. Johnny schüttelte den Kopf, ohne von seinem Buch aufzusehen.
    »Englisch«, bestätigte Clem und griff über Johnnys Schoß hinweg, um den blauroten Stoff eines Teppichs in der Mitte des Stapels zu befühlen. Johnny sah sie entsetzt an. Ebenso wie der Teppichhändler wusste auch er, dass dies das Zeichen zum Angriff gewesen war. Prompt flackerte das dunkle Auge unter den Schichten auf, und die wettergegerbte Hand zerrte den Teppich heraus.
    »Schöner Teppich, handgemacht, hundertprozent naturfarben … Gebetsteppich«, sprudelten die Worte aus ihm heraus.
    »Keine Lira«, sagte Clem.
    »Gott hört Gebete auf dieser Matte … magischer Teppich … Sterling?«, fragte er mit einem gierigen Glitzern in den Augen. »Sterling gut!«, erklärte er. »Spezialpreis … für dich … vierhundert Pfund. Spezialpreis.«
    Clem lachte kopfschüttelnd. »Vierhundert Pfund? Das soll wohl ein Witz sein.«
    »Dreihundertneunzig … nur für euch. Nur für kurze Zeit.« Er machte eine wedelnde Handbewegung, als könnte er dieses unglaublich verlockende Angebot nur begrenzt aufrechterhalten. Dabei war Zeitmangel eindeutig ihr geringstes Problem. Sechs endlose Stunden lang saß der Teppichhändler neben ihnen, ohne auch nur eine Sekunde in seinen Verkaufsbemühungen nachzulassen. Sie ignorierten ihn, anfangs noch höflich, später ganz unverhohlen, indem sie sich ungeniert unterhielten. Irgendwann drehte Johnny sich aus einem Papiertaschentuch kleine Stöpsel, die er sich in die Ohren stopfte, und döste, nur um beim Aufwachen festzustellen, dass der Mann immer noch irgendwelche Summen vor sich hin brabbelte.
    Irgendwann zwischen der fünften und sechsten Stunde ihrer Reise, nach einer Reifenpanne und einem lautstarken Streit zwischen den beiden alten Frauen in der ersten Reihe, begann Johnny, den Inhalt seiner Worte wieder bewusst wahrzunehmen. Mittlerweile war seine Stimme zu einem tonlosen Raunen abgeflacht, und sein Blick wirkte erschöpft, doch sein Durchhaltevermögen war umso eindrucksvoller. Ebenso wie der Preis, bei dem er inzwischen angelangt war.
    »Sagten Sie gerade vier Pfund?« Johnny wandte sich langsam um und starrte auf den Teppichstapel. Das Auge erschien. Johnny sah es blinzeln, als würde sein Besitzer aus einem tranceartigen Zustand erwachen.
    »Vier Pfund Sterling, ja, bitte sehr«, stieß er erschöpft hervor.
    »Gemacht.«
    Clem war völlig aus dem Häuschen. Den Rest der Fahrt brachte sie damit zu, ihren neuen Gebetsteppich zusammen- und wieder auseinanderzufalten. Er war nicht allzu groß, etwa einen Meter mal eins zwanzig, doch Clem war sicher, dass der Teppichhändler nicht gelogen hatte – der Teppich besaß magische Kräfte. Die Gebete, die darauf gen Himmel gesandt wurden, würden erhört werden. Sie konnte seine Magie förmlich spüren. Seine Vergangenheit und seine Zukunft lagen in ihren Händen. Eines Tages würde sie ihn ihren Enkeln zeigen und ihnen erzählen, wie sie und Johnny ihn für vier Mäuse auf einer Busfahrt nach Bodrum erstanden hatten.
    Clem klemmte sich den zusammengerollten Teppich

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