Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Mann. Und Johnny würde ebenfalls ein tapferer Mann werden.
Frank zündete sich eine weitere Zigarette an, fing auch sie zwischen den Lippen auf – wie cool ist das denn? , dachte er – und zündete sie mit den etwas abrupten, hektischen Bewegungen an, ehe er sie an Johnny weiterreichte. Dann schnippte er eine weitere für sich selbst heraus. Auch das hatte noch kein Mann je für ihn getan.
»Sehe ich ebenfalls so.« Mittlerweile hatte sich ein unüberhörbares Nuscheln in Johnnys Stimme geschlichen. »Ich meine, was geht bloß bei den ganzen Leuten ab, wenn sie älter werden?«, ereiferte er sich lautstark. Inzwischen fühlte er sich, als hätte ihn der gesamte Rest der Welt gnadenlos im Stich gelassen. »Wieso steigen sie nicht einfach aus dem Hamsterrad aus?«
»Angst«, antwortete Frank. »Die Leute haben Angst. Aber wir nicht, mein Freund! Nicht wir hier auf der Little Utopia!« Und damit stieß er mit seinem Glas gegen Johnnys.
»Auf die Little Utopia!«, rief Johnny mit einigen Schwierigkeiten aus.
Annie stieß ebenfalls mit den Männern an. Auch sie war sturzbetrunken. Ihre Augenwinkel hingen so schlaff herab wie ihr schräg geschnittener Pony, und der Wäschestapel neben ihr war so schief wie der Turm von Pisa.
»Auf die internationalen Gewässer!«, fügte Johnny hinzu und dachte unvermittelt an den Elchkopf, der irgendwo in den Tiefen des Meers aus der Kommodenschublade in die Finsternis starrte, an die weißen Tasten des Steinways, auf denen nie wieder jemand klimpern würde, und an das ins Nichts weisende Navigationsgerät; all diese Gegenstände lagen tief, tief, tief auf dem Meeresgrund, tief in der Endlosigkeit des Ozeans. War es tatsächlich erst vierundzwanzig Stunden her, seit sie die Sachen über Bord gekippt hatten?
»Frei von jeglichen Regeln und Gesetzen eines Landes«, trompetete Frank und erhob sich, um mit Johnny anzustoßen, wobei er einen Blick auf die schlafende Clem erhaschte. Sie lag auf dem Rücken, ihre Brust hob und senkte sich rhythmisch unter seiner Hand, und ihr Daumen hing lose zwischen ihren Lippen, während Johnnys Finger mit dem herzförmigen Stein um ihren Hals spielten.
»Seht sie auch an«, stieß Frank staunend hervor. Er schwankte leicht. »Sie nuckelt ja am Daumen!«
Johnny nickte. Frank brach in Gelächter aus und ließ sich auf seinen Platz sinken, während sich ein ernster Ausdruck auf seinen bemerkenswert fein geschnittenen Zügen ausbreitete.
»Ich mag euch beide«, erklärte er. »Ihr seid etwas ganz Besonderes. Etwas sehr Kostbares.«
»Darauf kannst du deinen Arsch verwetten«, bestätigte Johnny, der mittlerweile komplett hinüber war. Aber es spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle. Er fühlte sich frei, hier an Bord der Little Utopia.
Frank stieß eine Rauchwolke aus und legte seine Zigarette in den Aschenbecher. »Ja, genau«, sagte er und sah Johnny an. Seine dunklen Augen schienen ihn förmlich zu durchbohren. »Ich mag euch beide sehr gern.«
Er schnappte seine Gitarre, ließ die Saiten erklingen und stimmte voller Leidenschaft das Lied an, das die Meerjungfrau vorhin gesungen hatte.
»Hope you’ve got your things together … hope you are quite prepared to die … looks like we ’ re in for nasty wheather … one eye is taken for an eye … don’t got round tonight … it’s bound to take your life … there’s a bad moon on the rise … «
Erst in diesem Augenblick dämmerte Johnny, wie seltsam der Songtext war.
Das Geräusch des Bootsmotors riss Johnny aus dem Schlaf. Durch das Bullauge erblickte er den grauen Himmel. Er wandte den Kopf und spürte, wie sein verkatertes Gehirn gegen die Schädelwände zu schwappen schien. Clem schlief tief und fest neben ihm. Sie trug immer noch das T-Shirtkleid vom Vorabend. Er konnte sich nicht erinnern, zu Bett gegangen zu sein, doch sie lagen längsseits an der Bootswand, dort, wo sich gestern Abend noch der Kartentisch befunden hatte. Jemand hatte einen Schlafsack über sie gebreitet. Dann fiel es ihm wieder ein. Sie waren in Sicherheit. Sie würden von hier wegkommen. Einen Moment lang betrachtete er die schlafende Clem, dann streckte er die Hand aus und öffnete den obersten Knopf an ihrem Kleid, um einen Blick auf ihre Brust zu erhaschen. Er strich über ihre hellbraune Brustwarze, dann ließ er seine Finger an ihrem Hals entlang aufwärtswandern und zeichnete zärtlich den Schwung ihrer Lippen nach. Sie schlug die Augen auf und lächelte schläfrig, kuschelte sich an
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