Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
schon beibringen, was sie nicht von mir lernen kann?«
»Geht es dir gut?«, fragte Annie, als Clem aufstand und versuchte, die Luke zu öffnen.
»Ja, mir ist nur ein bisschen heiß«, antwortete sie. Mittlerweile setzte ihr der Alkohol ziemlich zu.
»Du bist betrunken«, erklärte Johnny fröhlich.
»Stimmt«, bestätigte sie. »O Johnny, ich bin betrunken, und mir ist sehr heiß.« Sie setzte sich wieder hin, und er half ihr, die Strickjacke auszuziehen.
»Du siehst tatsächlich ein bisschen erhitzt aus«, stellte Annie fest und legte Clem mit besorgter Miene behutsam ihre mit Silberringen bestückte Hand auf die Stirn. Trotz seines vom Alkohol benebelten Gehirns registrierte Johnny diese intime, zutiefst feminine Geste, die geradewegs sein Herz zu berühren schien.
»Fieber hast du jedenfalls nicht«, stellte Annie fest und setzte sich wieder. »Wahrscheinlich ist der Raki schuld. Leg dich doch hin.«
Clem befolgte den Ratschlag, ohne zu zögern. Sie ließ sich auf die Bank sinken und legte den Kopf auf Johnnys Schoß. Mit einem tiefen Seufzer rollte sie sich zusammen und schob den Daumen in den Mund, während sie mit der anderen Hand den herzförmigen Stein an der Kette um ihren Hals betastete. Er wusste, dass sie spätestens in einer Minute eingeschlafen sein würde; Clem besaß das einzigartige Talent, jederzeit einzuschlafen, wenn sie es wollte. Er breitete die Strickjacke über ihren Beinen aus, zog eine ihrer Locken in die Länge und ließ sie wieder in ihre ursprüngliche Form zurückschnellen wie die Aufhängefedern an der alten Norton seines Vaters.
»Meine Mum hat das früher auch immer gemacht«, sagte Johnny und sah Annie an. »Als ich noch ein kleiner Junge war.«
»Was genau meinst du?«
»Das mit der Hand.« Er imitierte ihre Geste.
»Wirklich?«, fragte Annie und lächelte ihn an. »Ich schätze, das machen alle Mütter.«
»Kann sein.« Es war lange her, seit er das letzte Mal an seine Mutter gedacht hatte. Der Alkohol machte ihn offenbar sentimental. »Früher stand mein Bett direkt neben dem Heizlüfter, und manchmal, wenn ich morgens keine Lust auf die Schule hatte, habe ich einfach das Gesicht eine Weile davorgehalten, die Bettdecke weggestrampelt und ein bisschen herumgejammert. Dann ist meine Mutter reingekommen, hat mir die Hand auf die Stirn gelegt, so wie du gerade bei Clem, und hat mich ganz besorgt angesehen. ›Du glühst ja tatsächlich, Johnny. Ich rufe gleich in der Schule an‹, hat sie gesagt und siehe da, ich durfte den ganzen Tag im Bett bleiben und mir einen runterholen, bis der Morgen graute.«
Annie und Frank brachen in schallendes Gelächter aus. Heute Abend war er eindeutig der Scherzkeks in der Runde. »Genau das ist der Punkt«, sagte Frank. »Genau deswegen will ich keine Jungs.«
Annie zog einen Stapel frisch gewaschener Wäsche heran, legte eines der Kleiderstücke auf ihren Schoß und begann, es mit der flachen Hand zu glätten. Frank beugte sich vor und fuhr mit seiner Pranke über die Tischplatte. Als er aufsah, war sein Lächeln verschwunden. »Also hast du deine Mutter verloren, ja?«
Johnny starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Er konnte sich nicht erinnern, erwähnt zu haben, dass sie nicht mehr lebte. Anderseits war seine Erinnerung an das, was er gesagt oder auch nicht gesagt hatte, durch den Alkohol reichlich getrübt.
»Keine Angst, Johnny.« Annie hielt inne und blickte ihn mit ihren großen, traurigen Augen an. »Frank kann Dinge sehen, die andere nicht sehen.« Sie musterte ihren Mann mit einer eigentümlichen Mischung aus Stolz und Trotz. »Er sieht einfach alles.«
»Stimmt«, sagte Johnny und blickte in Franks dunkle Augen. »Meine Mutter ist gestorben.«
»Wie alt warst du, als es passiert ist, Johnny? Vierzehn, fünfzehn?«, fragte er. Johnny musste genickt haben. Franks Stimme war so weich, dass es sich anfühlte, als befände sie sich in Johnnys Kopf, als würde sie mit dem Raki verschmelzen oder regelrecht darin ertrinken. Es war, als zerflösse er von innen heraus. Diesem Mann würde er alles erzählen, selbst seine tiefsten Gedanken, wenn er ihn danach fragen würde.
»Das muss sehr schwer für dich gewesen sein«, fuhr Frank fort. »Jungs brauchen ihre Mutter.«
Wieder nickte Johnny. Die Erinnerung an ihre Berührung war deutlicher in seinem Gedächtnis eingebrannt als die Details ihres Gesichts: die kühle, weiche Hand auf seiner Stirn, die Kälte ihrer Ringe, die Festigkeit ihrer Nägel. Sie waren stets rosa lackiert
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