Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
»Morgen!«, begrüßte sie die beiden mit übertriebener Munterkeit. Johnny wusste, dass sie sich bemühte, sich ihre Sorge über die grünen Kleider, das Pfeifen und die Tatsache, dass sie an einem Freitag in See stachen, nicht anmerken zu lassen. Sie setzte sich auf die Steuerbordseite und blickte auf die trostlose Landschaft hinaus.
»Sobald Johnny an Bord eines Schiffes ist, hat er Glück«, erklärte sie aus einem spontanen Impuls heraus.
»Tatsächlich?« Frank wandte sich ihr zu.
»Er ist ein Glückskind. Von Geburt an.«
»Tja, wenn das so ist …« Frank beugte sich vor, legte eine Hand auf den Ganghebel und schaltete zurück.
»Er wurde mit einer Glückshaube geboren. Die Fruchtblase war völlig intakt, als er zur Welt kam. Sein Dad sagt, er hätte ausgesehen, als wäre er mit Frischhaltefolie überzogen gewesen.«
»Und das gilt als Glückszeichen, stimmt’s?«, fragte Frank und schnippte seine Zigarettenasche über die Reling.
»Sie hat mich frisch gehalten«, erklärte Johnny und ging die Kombüsentreppe nach unten, um einen Blick auf die Karte zu werfen.
»Das bedeutet, dass er niemals ertrinken wird«, fuhr Clem fort.
Johnny breitete die Karte auf dem Tisch aus, die sich jedoch als höchst notdürftig entpuppte und etwa so hilfreich war wie eine Ansichtskarte. Kein einziges Dorf war darauf eingezeichnet, und beim Anblick der kargen Landschaft musste man sich fragen, ob hier überhaupt eine Menschenseele lebte. Großbritannien war so dicht bevölkert, dass ihn die scheinbar endlose Zivilisationslosigkeit in manchen anderen Ländern immer wieder in Erstaunen versetzte. Auf der Karte war eine Handvoll Kleinstädte eingezeichnet, eine davon im Herzen der weitläufigen Bucht, doch die größeren Städte, Datça und Marmaris, wo es Busverbindungen und möglicherweise auch einen Bahnhof gab, befanden sich in der angrenzenden Bucht. Er glaubte sich zu erinnern, dass Frank gestern Abend erwähnt hatte, sie führen »von Küste zu Küste«. Bestimmt kamen sie bald an einem Dorf vorbei, wo sie von Bord gehen konnten und eine Mitfahrgelegenheit finden würden. Das sollte eigentlich kein Problem sein.
»Nein, ehrlich«, beharrte Clem, als Johnny ins Cockpit zurückkehrte. »In früheren Zeiten hätten Seeleute einiges darum gegeben, jemanden wie Johnny an Bord zu haben, weil man glaubte, mit ihm würde das Schiff nicht sinken.«
»Bin ich auch mit einer Glücksgaube geboren?«
»Glücks haube . Nein, Schatz.«
»Bist du tatsächlich abergläubisch, Clem?«, fragte Frank amüsiert.
»Du etwa nicht?«
»Nein. Und? Wie sieht’s aus, Johnny?«
»Na ja, Dörfer sind auf der Karte nicht eingezeichnet, aber demnächst sollten wir an einer Ortschaft vorbeikommen, wo wir von Bord gehen und eine Mitfahrgelegenheit suchen können.«
»Irgendwann müssten wir nach Datça kommen, oder?«, fragte Frank.
»Ja, aber so weit braucht ihr uns nicht mitzunehmen. Danke, Frank.«
»Aber manchmal passieren positive Dinge, weil das Schicksal es so will«, sagte Clem zu Annie. »Und manchmal passieren eben auch schlimme Dinge. Das weiß doch jedes Kind.« Aber keiner machte Anstalten, sie in ihrer Meinung zu bestätigen. »Bist du denn überhaupt nicht abergläubisch?«, fragte sie Frank, als wäre die Vorstellung völlig absurd. Selbst Johnny verkniff es sich, an Bord eines Boots zu pfeifen.
»Ich glaube an nichts, was nur darauf abzielt, den Leuten Angst zu machen. Glück und Pech sind nur Mittel, um Kontrolle über andere auszuüben. Sie beschwören Angst herauf. Genauso wie die Religion. Oder Regierungen. Es ist nur eine andere Form der Manipulation durch den Staat.«
Clem starrte ihn fassungslos an.
Johnny, der sich nur vage daran erinnern konnte, wie sympathisch ihm dieser Mann gestern Abend gewesen war, fiel wieder ein, wie sehr er sich bei ihrem Besäufnis vergessen hatte. Irgendwo im hintersten Winkel seines Gedächtnisses geisterte die Erinnerung herum, dass er sogar geflennt hatte. »Das mit gestern Abend tut mir leid«, sagte er und drehte sich die erste Zigarette dieses Tages. »Ich glaube, der Raki hat mir den Rest gegeben.«
»Entschuldige dich nie dafür, wie du bist«, gab Frank zurück, schnippte seine Zigarette über Bord und sah Johnny in die Augen. »Das ist Schwachsinn.«
»Also glaubst du an die These, dass wir selbst unseres Glückes Schmied sind, Frank?«, fragte Clem und blickte aufs Meer hinaus.
»Allerdings«, bestätigte er. »Ursache und Wirkung, das ist das Prinzip, auf dem alles
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