Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
gewesen. All das sah er mit einer Klarheit vor sich, die ihn zu überwältigen drohte.
    Erneut unterbrach Annie ihre Arbeit, streckte langsam die Hand über den Tisch und legte sie auf Johnnys. Er konnte nicht anders; er war viel zu betrunken, um sich darum zu scheren. Ohne jede Scheu ergriff er ihre Hand, hob sie an seine Stirn und schloss lächelnd die Augen. Alles, die ganze Situation, schien zu viel für ihn zu sein: die Ereignisse des Abends, ihre Flucht vor den unbekannten Männern, die Zuflucht, die sie hier an Bord gefunden hatten, die Freundlichkeit dieser Leute, die Musik, die Tatsache, dass sie so weit fort von zu Hause waren, seine Liebe zu Clem und zu seiner toten Mutter. All das trieb ihm die Tränen in die Augen. Zumindest glaubte er, dass er weinte.
    »Ist schon gut, Johnny«, sagte Frank sanft. »Ihr habt einen schlimmen Abend hinter euch. Offenbar habt ihr mächtig in der Klemme gesteckt. Aber jetzt seid ihr in Sicherheit.«
    In diesem Moment spürte er Franks Pranke, die ihm mit fast weiblicher Sanftheit übers Haar strich. Kein Mann hatte ihn jemals zuvor auf diese Weise berührt. »Es ist schon in Ordnung«, sagte er mit dieser tiefen, besänftigenden Stimme.
    Johnny ließ den Kopf gegen das Regal hinter ihm sinken und schloss die Augen. Er spürte das Gewicht von Franks Hand auf seinem Kopf, Annies Finger, die noch immer seine Hand umschlossen, Clems Kopf auf seinem Schoß. Berührung. Er schwamm in einem Meer aus Berührung. Er lauschte dem Regen, der auf das Deck prasselte, inzwischen etwas weniger heftig, wie Fingerspitzen, die in einem komplexen Rhythmus auf eine Holzplatte trommelten. Er musste total blau sein. Irgendwann merkte er, wie Frank seine Hand wegnahm, nach seiner Gitarre griff und ein paar Akkorde spielte. Er und Annie begannen leise zu summen. Ihre Stimme drangen wie aus weiter Ferne an seine Ohren, und Johnny ließ sie ihn seinem Kopf umhertanzen, während er bei sich dachte, was für ein merkwürdiger und zugleich wunderbarer Abend dies doch war. Er fühlte sich, als hätte jemand einen Stöpsel in ihm herausgezogen, sodass sein Innerstes ungehindert nach draußen fließen konnte. Und es fühlte sich wunderbar an, ein süßes, wohliges Gefühl der Erlösung.
    Als er die Augen wieder aufschlug, blickte er in ihre lächelnden Gesichter. Er lächelte ebenfalls, und Annie nahm ihre Arbeit wieder auf.
    »So will ich es auch eines Tages haben«, sagte Johnny. »Genau dieses Leben: mit einem Kind auf einem Boot leben.«
    Frank stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch auf und grinste ihn an. »Braver Junge. So und nicht anders.«
    »Meinst du?« Johnny setzte sich auf. Seine Melancholie war so schnell verflogen, wie sie aufgeflackert war. »Erzähl mir mehr davon.«
    Die dunklen Augen des Bärenmanns funkelten. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Tja«, sagte er tiefgründig, als wollte er ein Geheimnis lüften. »Wir sind auf einem Boot, richtig? Und damit sind wir nicht an die Gesetze eines bestimmten Landes gebunden. Wir leben so, wie wir es gern wollen. Wir müssen uns all den lächerlichen Werten, die uns die Gesellschaft auferlegt, und Regeln anderer Leute nicht unterwerfen. Wie man sich benehmen muss, was richtig ist und was falsch, wie wir miteinander umgehen und unsere Kinder erziehen sollen. Keiner schreibt uns vor, wie wir leben, was unsere Kinder lernen und wie sie denken sollen. Hier auf der Little Utopia denken wir so, wie wir wollen. Es gibt keine Regeln, keine Beschränkungen, keine Schubladen und Etiketten. Soll ich dir sagen, was das ist, Johnny?« Er knallte sein Glas auf den Tisch, sodass der Raki über den Rand spritzte. Er war ebenso sturzbetrunken wie Johnny, daran gab es inzwischen keinen Zweifel mehr. »Das ist das verdammte Goldene Zeitalter!«
    Johnny ließ sein Glas ebenfalls auf den Tisch krachen. Er hatte zwar keine Ahnung, was das verdammte Goldene Zeitalter war, aber es hörte sich verdammt noch mal gut an. Er grinste. In seinem ganzen Leben war er noch nie einem Mann wie Frank begegnet. Alle anderen schienen sich irgendwann einmal auf schale Kompromisse eingelassen zu haben, aber dieser Mann lebte einzig und allein nach seinen eigenen Regeln. Johnny schwor sich, eines Tages so zu sein wie er, sich mit nichts Geringerem zufriedenzugeben. Er würde sich nicht auf ein lauwarmes Leben in einer lauwarmen Beziehung und mit einem lauwarmen Job einlassen, so wie die meisten. Selbst sein Dad war irgendwann eingeknickt. Frank dagegen war ein tapferer

Weitere Kostenlose Bücher