Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
lachte.
»Seid ihr beide Naturisten? Lauft ihr sonst nackt an Bord herum?«, fragte Clem.
»Wenn wir allein auf dem Boot sind und es warm genug ist, bleiben wir tatsächlich nackt. Stimmt’s, Annie?«
Annie nickte. Ihre herrlichen Brüste kamen Johnny wieder in den Sinn. Sein Blick streifte darüber hinweg, während er sein Glas leerte. Er warf Clem einen Blick zu, die mit einer Haarsträhne herumspielte und Frank nachdenklich betrachtete. Grundsätzlich war ihm die Vorstellung, nackt zu sein und sein Innerstes zu entblößen, durchaus sympathisch, doch Clems Nacktheit würde er ganz bestimmt nicht mit anderen teilen wollen. Ihr Körper gehörte ihm ganz allein.
Annie rappelte sich mühsam auf und zerzauste ihm das Haar. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich geh jetzt ins Bett. Sofern Smudge es nicht für sich allein beansprucht.«
Frank folgte ihr wenig später, während Clem und Johnny sich in ihr Quartier zurückzogen, das durch die gerade einmal einen knappen Meter breite Toilette von Annies und Franks Bett getrennt war. Heilfroh, einen Moment für sich zu haben, putzte Johnny sich ausgiebig die Zähne. Etwas beschäftigte ihn, doch er konnte es nicht genau benennen.
Er blickte zum Mond hinauf, der beinahe voll am Himmel stand und einen scharf gezackten Streifen Wasser in kaltes, weißes Licht tauchte. Die Sterne glitzerten und funkelten millionenfach am Himmel und erinnerten ihn daran, wie klein und unbedeutend die eigene Existenz doch war. »Lass es gut sein«, sagte er sich. »Lass es einfach gut sein.« Er spuckte den Zahnpastaschaum ins Waschbecken und kehrte in die Kabine zurück.
Inzwischen hatte Clem das Bett hergerichtet. Sie verband ihre Schlafsäcke mit dem Reißverschluss und hatte die Zwischentür geschlossen. Johnny zog sich aus, kletterte hinein und versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Doch er ertappte sich dabei, dass er »es« nicht einfach gut sein lassen konnte. »Es« blieb beharrlich, wollte sich offenbar nicht aus seinen Gedanken vertreiben lassen. Er hatte keine Lust, wie gewohnt auf Clem zu warten, den Schlafsack zurückzuschlagen, sie zuzudecken und an sich zu ziehen, um sie zu wärmen. Aber er wollte sich auch nicht wegdrehen. Das wäre zu demonstrativ gewesen. Also lag er reglos auf dem Rücken, während sie ihre Ohrringe ablegte und die allabendlichen Rituale vollzog, die bei Frauen so viel länger zu dauern schienen. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, doch seine Beine waren zu lang, deshalb musste er sie anziehen.
Sie knipste das Licht aus, bevor sie nach oben an Deck ging, um sich die Zähne zu putzen, wofür er dankbar war. Er wollte nicht, dass sie ihn sah. Einen Moment lang überlegte er, sich einfach schlafend zu stellen, doch damit würde er nur ihren Verdacht erregen. Er schlief niemals vor ihr ein. Stattdessen lag er da, lauschte grübelnd den Wellen, die klatschend gegen den Bootsrumpf schlugen, während das helle Mondlicht die Kajüte erhellte, als sich das Boot abwechselnd hob und wieder senkte. Franks gedämpfte Stimme drang aus dem Nebenraum, dann verstummte sie.
Clem stand im Cockpit und blickte, staunend und von einem neuen, ungekannten Gefühl der Leichtigkeit erfüllt, zum Mond hinauf. Sie verspürte nicht einmal den Anflug von Müdigkeit. Ganz im Gegenteil. Vielmehr durchströmte sie eine ungewohnte Erregung, ein Flattern ganz tief in ihrem Innern, das etwas befreite, was all die Jahre in ihr gefangen gewesen war. Sie blickte zu den Millionen und Abermillionen Sternen hinauf und begriff zum ersten Mal die Verbindung zwischen ihr und ihnen, zwischen ihr und dem Universum. Es gab kein anders ; vielmehr war es eine Illusion, zu glauben, die Dinge voneinander trennen zu müssen. Sie wusste nun, dass sie ein Teil von alldem war. Ihr Körper bestand aus denselben Elementen, aus denen auch alles andere auf diesem Planeten erschaffen worden war. Damit gab es auch für sie keine Grenzen mehr. Sie konnte alles erreichen. Sie sog die klare, kühle Nachtluft, den Sternenstaub, tief in ihre Lungen, in der Hoffnung, ihre Empfindung für immer in ihrem Innern abspeichern zu können. Sie musste unbedingt Johnny davon erzählen. Oder es niederschreiben. Sie lief hinunter, um sich auszuziehen, doch es schien ihr nicht zu gelingen, ihre Gefühle in die passenden Worte zu kleiden. Außerdem lag Johnny auf dem Rücken und hatte den Kopf abgewandt. Sie legte sich neben ihn, doch er machte keine Anstalten, sich ihr zuzuwenden. Sie kuschelte sich an
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