Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
noch nicht wissen.«
»Kann sein«, erwiderte sie wenig überzeugt und hielt mitten in der Massage inne, als wäre es zu viel, ihm zuzuhören und zugleich Johnnys Füße zu verwöhnen.
Johnny wackelte mit den Zehen, um sie an ihre Aufgabe zu erinnern.
»Aber vielleicht kannten wir sie auch schon mal, haben sie aber wieder vergessen.«
»Ja«, sagte Frank und wandte sich ihr zu. »Das ist es! Vielleicht besteht der Zweck unseres Daseins auf der Erde nur darin, all die Lösungen wiederzuentdecken!«
»Vielleicht hat unser Dasein auch überhaupt keinen tieferen Sinn«, warf Johnny ein und hörte, wie Annie leise lachte.
»Ach, Johnny«, sagte Clem und drückte ihre Fingerknöchel kräftig gegen seinen Fuß. »Sei nicht albern. Natürlich erfüllt unser Dasein einen bestimmten Zweck. Worin liegt sonst der Sinn des Ganzen?«
»Ah, wenigstens in diesem Punkt sind wir uns einig, Clem.« Frank lächelte und entblößte dabei sein perfektes Gebiss.
»Was soll deiner Meinung nach der Sinn des Lebens sein, Frank?«, hakte Clem nach. »Du sagtest vorhin etwas von einem göttlichen Witz. Heißt das, du glaubst an Gott?«
Frank blickte zum Nachthimmel hinauf und schien seine Worte mit Bedacht zu wählen. Etwas an der Art, wie er sprach, zwang einen, ihm zuzuhören, um bloß kein Wort zu versäumen. Frank hätte einen erstklassigen Lehrer abgegeben. Mit Lehrern wie ihm hätte Johnny in der Schule bestimmt wesentlich mehr Begeisterung an den Tag gelegt.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Leben völlig sinnlos ist«, sagte er. »Ich glaube nicht an Gott selbst, sondern vielmehr an eine universelle Kraft. Daran, dass eine Art Ordnung in unserem Chaos herrscht.« Er sah zwar nur Clem an, doch seine Worte waren an sie alle gerichtet. »Und ich bin absolut sicher, dass die menschliche Zivilisation eines Tages ein zweites Goldenes Zeitalter erleben wird.«
Clem nahm sein Zigarettenpäckchen und legte fragend den Kopf schief. Frank musste genickt haben, doch es war zu dunkel, als dass Johnny es erkennen konnte. Sie nahm eine heraus, während Frank sich umdrehte, um sie ihr anzuzünden. Seine Züge wirkten verblüffend alt im rötlichen Schein der Flamme. Tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn ein, und Johnny fragte sich, ob auch Clem es bemerkt hatte.
»Was ist denn dieses Goldene Zeitalter?«, fragte Johnny.
»Ah«, sagte Frank, als käme ihm eine lieb gewonnene Erinnerung in den Sinn, schwang die Beine von der Ruderpinne, setzte sich aufrecht hin und zupfte am Bündchen seines alten, löchrigen Pullovers herum. »Laut zahlreicher historischer Texte war das Goldene Zeitalter eine Ära in der Geschichte, in der die Menschen in perfekter Harmonie mit den Naturgesetzen gelebt haben.«
Clem, die eindringlich lauschte, zog an ihrer Zigarette. Im Lauf der Jahre war sie zu einer eleganten Raucherin herangewachsen, wie ein Filmstar aus den Zwanzigern.
»Es war ein Zeitalter, in dem die Welt von Harmonie und Frieden bestimmt wurde und die Menschen in völliger Übereinstimmung mit der Natur leben konnten«, fuhr er fort.
»Und was genau versteht man unter Naturgesetzen?«, wollte Clem wissen.
»Ein Naturgesetz ist ein von der Natur festgelegtes Gesetz, dessen Auswirkungen sich jedoch auch in jedem anderen Bereich niederschlagen.«
»Das verstehe ich nicht. In welchem denn?«
»Na ja, das naheliegendste …«, antwortete Frank langsam mit seiner typisch leisen Stimme, die Johnny zwang, sorgfältig zu lauschen, um bloß kein Wort zu versäumen, »… ist, dass wir alle Teil des großen Ganzen sind. Wir, die Menschen, der Planet Erde, das Universum, all das besteht aus denselben chemischen Elementen. In dir schlummert dasselbe Potenzial wie in einem drei Trilliarden Meilen entfernten Stern am Himmel.«
Johnny begann sich eine Zigarette zu drehen, ganz langsam und gemächlich; eine schöne, dünne Zigarette mit sorgfältig verteiltem Tabak. Was Frank sagte, war an sich nichts Neues – man brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, dass das gesamte Universum mit allem, was dazugehörte, aus einer begrenzten Zahl an Elementen bestand –, doch die Art, wie er es darlegte, ließ es originell und innovativ klingen. Johnny war dankbar, dass sie eine zweite Nacht an Bord der Little Utopia verbringen durften. Er wollte mehr hören; und er wünschte, Clem fahre mit ihrer Massage fort, doch sie schien seine Füße komplett vergessen zu haben und hing stattdessen wie gebannt an Franks Lippen.
»Denk nur mal an eine Eichel«,
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