Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
sagte Frank, beugte sich vor und blickte sie eindringlich an. »In dieser winzigen Frucht steckt das Potenzial, zu einer mächtigen Eiche heranzuwachsen. Folglich kann der Sinn unseres Lebens nur sein, unser ureigenes Potenzial zu erkennen und dafür zu sorgen, dass die in uns schlummernden Talente ans Licht kommen.«
Clem und Johnny schwiegen. Mit seinen Worten hatte er sie völlig in seinen Bann geschlagen. Seine Augen waren von einem Feuer erhellt, das ganz tief in seinem Innern zu lodern schien. »Ihr könnt es genauso gut so betrachten: Tief in jedem von uns befindet sich eine Mine voll kostbarer Steine. All die Reichtümer der Erde stehen uns zur Verfügung. Vielleicht besteht unsere Pflicht als menschliche Wesen ja darin, in diesen Minen zu schürfen und all die wertvollen Diamanten ans Tageslicht zu holen. Wir alle könnten dauerhaft in einem Zustand des vollkommenen Glücks und der Harmonie leben, wenn wir es nur wollten.«
»Aber wie sollen wir dort hinunterkommen?«, fragte Clem atemlos vor Staunen.
»Ganz einfach. Indem du dir dein Potenzial zunutze machst.«
»Und wie soll das gehen?«, fragte sie, schob Johnnys Bein beiseite, als würde sein Gewicht sie auf einmal stören, und zog die Knie an.
Eine Fülle an verborgenen Sehnsüchten schien in dem Seufzer mitzuschwingen, den Frank ausstieß. Er wandte sich ihr zu. »Das wird von ganz allein passieren, wenn du erst einmal all den anderen Naturgesetzen gefolgt bist. Als Erstes musst du begreifen, dass du allein die Kontrolle über dein Leben hast. Du bist kein Opfer, sondern die Welt ist so, wie du sie haben willst. Das sage ich zu Annie auch immer. Stimmt’s, Schatz?«
Er erwartete keine Antwort von ihr, ja, er sah sie noch nicht einmal an. Johnny hingegen schon. Sie kippte ihren Wein hinunter, als hätte sie all das schon x-mal gehört. Hinter ihrer scheinbar bekümmerten Fassade verbarg sich eine Kampflust, die ihm mit jeder Minute besser gefiel. Für Johnny hingegen war alles, was Frank sagte, absolutes Neuland, deshalb wollte er mehr davon hören. Noch nie in seinem Leben hatte er jemand solche Dinge sagen gehört.
»Du musst in jeglicher Hinsicht die Verantwortung für dein Handeln übernehmen. Und das gilt für jegliche Art, wie du auf das reagierst, was das Leben mit sich bringt. Um dafür in der Lage zu sein, musst du all die Schutzwälle einreißen, die du um dein Inneres errichtet hast.«
»Aber ich kann doch nicht steuern, wie ich auf etwas reagiere, sondern reagiere eben«, wandte Clem ein.
Lachend setzte Frank sich zurück. »Du irrst dich ganz gewaltig, Clem. Natürlich kannst du es beeinflussen.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Doch. Indem du versucht, deine Wahl ganz bewusst wahrzunehmen, wenn du sie triffst.«
Er saß mit gespreizten Beinen da, die Fingerspitzen und die beiden Stümpfe nachdenklich aneinandergelegt, und wog seine Erklärung sorgsam ab. Dann sah er ihr direkt in die Augen. »Das ist mein voller Ernst, Clem«, sagte er und hielt inne. Clem und Johnny beugten sich noch ein Stück vor. »Du bist eine der schönsten Frauen, denen ich in meinem ganzen Leben begegnet bin«, fuhr er dann fort, ohne den Blick von ihr zu lösen.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Zeit stehen zu bleiben. Johnny beobachtete, wie Clem ihre Freude zu verhehlen versuchte. Ihre Mundwinkel zuckten kaum merklich, dann wandte sie den Blick ab und klimperte flüchtig mit den Wimpern. Schließlich warf sie Johnny einen unbekümmerten Blick zu, als wäre ihr Franks Kompliment höchst peinlich. Im hellen Tageslicht hätte er die sanfte Röte gesehen, die sich auf ihren Wangen ausbreitete. Johnny spürte, wie Bitterkeit, gepaart mit einer neuen, unbekannten Empfindung, in ihm aufstieg.
»Okay«, fuhr Frank fort und zog sein Zigarettenpäckchen hervor. Er tippte eine Zigarette heraus, fing sie zwischen den Lippen auf und zündete sie auf seine typisch hastige und zugleich lässige Weise an. »Du hast dich entschieden, dich geschmeichelt zu fühlen«, sagte er in einem Tonfall, als sei das Ganze lediglich ein Experiment. Er zog an seiner Zigarette, lehnte sich zurück und ließ den Rauch in einem steten Strom entweichen. »Du hast eine Entscheidung getroffen. Du hattest die Wahl und hättest ebenso gut beschließen können, meine Worte als Kränkung aufzufassen.« Er wandte sich Johnny zu. »Und deinem Ego könnte es einen gehörigen Dämpfer versetzen, wenn ein anderer Mann die Schönheit deiner Frau hervorhebt.« Er hielt inne.
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