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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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»Trotzdem bist immer noch du derjenige, der die Entscheidung trifft.«
    Johnny wollte nicht, dass Frank ihn für eines dieser Weicheier hielt, deren Ego sich im Handumdrehen in Grund und Boden stampfen ließ. Er wollte besser als andere Männer sein. Clem war eine Schönheit, daran gab es nichts zu rütteln, und Johnny genoss es sogar, andere Männer von ihrer Schönheit schwärmen zu hören. Deshalb beschloss er, den Anflug von Bitterkeit zu bekämpfen. Prompt spürte er, wie das Gefühl nachließ. Er fasste den Entschluss, nicht beleidigt zu sein. Und es fühlte sich gut an. So als hätte er alles unter Kontrolle. Plötzlich konnte er verstehen, was Annie am Vorabend mit ihrer Bemerkung gemeint hatte, Frank könne Dinge sehen . Er blickte zu Annie hinüber, die zusammengesunken dasaß, das Gesicht hinter dem dichten Vorhang ihres Haars verborgen.
    »Ich werde es als Kompliment für meinen bemerkenswerten guten Geschmack auffassen«, sagte er und zündete seine Selbstgedrehte an. Frank lächelte und nickte zustimmend, woraufhin Johnny sich sogar noch besser fühlte, als hätte er eine Art Prüfung bestanden.
    »Okay, ich hab’s kapiert, Frank«, sagte Clem in einem Tonfall, den Johnny noch nie an ihr gehört hatte. Kampflustig und aufsässig, wie eine Schülerin, die beim Lehrer Eindruck zu schinden versuchte. »Mir schmeichelt es allerdings nicht. Dann findet mich eben jemand schön. Na und?«
    »Auch das ist eine Entscheidung, die du selbst triffst, Clem.« Noch immer sprach Frank ganz langsam und mit Bedacht, als stünde ihm nur ein begrenztes Kontingent an Worten zur Verfügung. »Aber du wirst feststellen, dass es für jede Situation eine richtige Entscheidung gibt.«
    »Und woher soll ich wissen, welche die richtige ist?«, fragte sie.
    »Die Entscheidung, mit der du und dein Umfeld glücklich bist, ist die richtige«, antwortete er und richtete seine dunklen, funkelnden Augen zuerst auf Clem, dann auf Johnny. »Dein Bauch weiß es. Auf ihn musst du vertrauen. Er kennt immer die richtige Antwort.«
    Niemand hatte Johnny bisher geraten, auf sein Bauchgefühl zu hören. Stattdessen hatte man ihn stets angehalten, sich bei seinen Entscheidungen rein auf seinen Verstand zu verlassen. Doch er bezweifelte keine Sekunde, dass Frank mit dem, was er sagte, völlig recht hatte.
    »Ihr werdet euch wundern, was passiert, wenn ihr erst einmal damit angefangen habt. Die Barrieren, die euch umgeben, werden von euch abfallen wie Kleider, die ihr abstreifen wollt.«
    »Apropos Kleider«, warf Annie ein. Johnny hatte gedacht, sie wäre inzwischen eingeschlafen, doch nun setzte sie sich mit einer abrupten Bewegung auf. »Frank findet, keiner von uns sollte Kleider tragen. Im Goldenen Zeitalter sind alle nackt herumgelaufen.«
    »Du bist betrunken, Schatz«, bemerkte Frank, wenn auch keineswegs unfreundlich.
    »Tut mir leid«, sagte sie und ließ den Kopf wieder sinken.
    Er beugte sich vor, nahm ihre Hand und sah Johnny an. »Annie hat ein schweres Leben gehabt …«, erklärte er zärtlich. »Stimmt’s, Liebste?«
    Sie hob den Kopf und blickte ihn aus ihren hellen, traurigen Augen an, sagte jedoch nichts.
    »Stimmt das?«, wollte Clem nach einer Weile wissen, nachdem klar geworden war, dass Annie sich nicht weiter zu Franks Bemerkung äußern würde. »Dass im Goldenen Zeitalter alle nackt herumgelaufen sind?«
    »Ja, es stimmt«, antwortete er und ließ die Hand seiner Frau los. »Kleidung ist nichts als ein weiteres Mittel, um sich von anderen abzugrenzen. Kleider bedeuteten noch mehr Barrieren zwischen uns und der Welt. Nur in der Nacktheit können wir wirklich offen sein und unsere Hemmungen ablegen. Nur in der Nacktheit gelingt es uns, unser Innerstes zu enthüllen.«
    »Aber hätten nicht alle Menschen ständig Sex, wenn wir nackt herumliefen?«, fragte Johnny, dendie Vorstellung von einem dauerhaften Verzicht auf Kleidung erregte und zugleich bestürzte. Er schnippte seine Zigarette über Bord und sah zu, wie sie wie ein fliegender Komet ins Wasser sauste.
    »Anfangs vielleicht schon, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf Dauer so wäre«, warf Clem ein. »Nicht, wenn alle so herumlaufen.«
    »Das sehe ich auch so«, stimmte Frank zu.
    »Vielleicht hast du ja recht«, meinte Johnny. »Irgendwann wären wir der Nacktheit überdrüssig und würden einen umgekehrten Striptease hinlegen, um unseren Partner zu erregen. Und der dicke Wollpulli wäre der Höhepunkt.« Annie war die Einzige, die über seinen Scherz

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