Die Stille zwischen den Sternen
jemand die Hand auf die Schulter. »Geht’s dir nicht gut?«, höre ich eine Stimme fragen.
Ich drehe mich um und sehe ein Mädchen, fast so groß wie ich, mit roten Haaren und einem sommersprossigen Gesicht. In der Hand hält sie einen bunt bestickten Beutel.
Im ersten Augenblick bin ich bereit, dem Mädchen alles zu erzählen, endlich all den Mist loszuwerden, den ich mit mir rumschleppe. Aber dann tue ich es doch nicht. Ich will einfach nicht mehr reden. Und für einen Augenblick habe ich sogar das Gefühl, dass ich es auch nicht mehr kann.
»Mhm«, sage ich zu dem Mädchen. Das kann beides bedeuten: »Es geht mir nicht gut«, oder: »Ich bin schon wieder auf dem Damm, bloß keine Panik.«
Während ich mein Fahrrad hole, läuft das Mädchen
neben mir her. Mir fällt auf, dass sie ein grünes und ein braunes Auge hat.
Mensch, wie gern würde ich sie jetzt zum Eis einladen oder ins Kino oder sonst wohin. Sie gefällt mir, sie gefällt mir sogar sehr. Aber ich spreche ja nicht. Was soll sie mit einem Jungen anfangen, der die Zähne nicht auseinanderkriegt? Also nicke ich ihr bloß zu und steige wieder aufs Rad. Als ich mich irgendwann umdrehe, ist das Mädchen nicht mehr zu sehen.
Unterwegs muss ich an einer Ampel warten. Direkt vor mir, auf dem Friedensplatz, ragt der alte Gasometer in die Höhe. Früher versorgte er mit dem gespeicherten Gas das Stahlwerk von Schwatten. Um den Gasometer herum soll mal ein Filmpark entstehen. Mit 3-D-Kino, Filmpalast und allem Schnickschnack. Meine Eltern sind vor ein paar Wochen bei einem Konzert gewesen. Die Akustik im Turm sei einfach umwerfend, haben sie hinterher erzählt.
Als ich an die Akustik des Gasometers denke, weiß ich plötzlich, was ich zu tun habe. Mein Schweigen reicht nicht aus, damit werde ich meine Eltern nicht dazu bringen, die Wahrheit zu sagen. Sie werden weiterlügen, werden mir Geschichten erzählen - über Frauen, die sich verwählen, über Männer, die man zufällig im Café trifft. Du hast Probleme mit der Pubertät, werden sie sagen, das wird schon wieder. Sie werden nie begreifen, warum ich nicht mehr spreche. Leute wie meine Eltern brauchen mehr. Die brauchen einen Schock, um endlich mit dem Lügen aufzuhören.
Den werde ich ihnen verschaffen, den Schock ihres
Lebens werden sie haben. Die beiden werden glauben, dass die Welt untergeht. Und danach wird endlich Stille sein, eine Stille wie in dem Raum da oben zwischen den Sternen.
Vielleicht werden meine Eltern ja dann nachdenken. Über sich. Über mich. Über uns. Über ihre Lügen. Darüber vor allem. Und wenn es ein paar anderen Leuten in Schwatten genauso geht, schadet das auch nichts.
Zu Hause gehe ich sofort hinunter in meine Werkstatt. Zum Glück hat mich mein Vater gut ausgerüstet. Zu jedem Geburtstag habe ich ein Physik- oder Chemiepaket gekriegt. Was mir fehlt, kann ich mir leicht besorgen.
Soll ich Kim in meinen Plan einweihen? Lieber nicht. Das, was ich vorhabe, ist ein paar Nummern zu groß für ihn.
In den letzten Jahren habe ich mich auf Sprechfunk spezialisiert, habe mir Bausätze von meinem Taschengeld gekauft und Frequenzen und Reichweiten verändert. Kim und ich haben die Funkgeräte auf dem Katzenberg ausprobiert. Wir sind mit dem Mountainbike blind durch die Kurven gerast, weil uns der andere über Funk Bescheid sagen konnte, wenn die Straße frei war. Einmal haben wir Maike und Christina aus unserer Klasse mitgenommen. Die beiden waren echt beeindruckt.
Mein erster Versuch ist eine Flasche mit Zeitzünder, ein Molotowcocktail mit einem primitiven Wecker, den ich in einer meiner Werkzeugkisten finde. Als Füllung nehme ich Rasenmäherbenzin. Ich packe die Flasche in
meinen Rucksack und fahre auf den Katzenberg. Dort kenne ich Stellen, an die sich nie ein Spaziergänger verirrt.
Auf einer Lichtung, weit weg von den Wanderwegen, lege ich die Flasche unter einen umgestürzten Baum und aktiviere den Zünder. Hinter einem Erdwall warte ich ab. Nach drei Minuten, genau wie ich es auf dem Wecker eingestellt habe, gibt es ein enttäuschendes Geräusch, das höchstens einen Hasen erschreckt hätte. Aber als ich nach den Überresten suche, liegt der Wecker fünfzig Meter entfernt in einem Gebüsch, von der Flasche finde ich nur noch ein paar Splitter.
Ich stopfe die zerbeulte und geschwärzte Uhr in den Rucksack und gehe zu meinem Rad zurück. In einem geschlossenen Raum wird es heftiger knallen, dazu braucht man sich nicht mal mit Physik auszukennen. Dies war nur ein Anfang.
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