Die Stille zwischen den Sternen
»Klingt richtig gut, Jonas. Aber eigentlich bin ich nicht gekommen, um dir den Kaktus zu bringen. Das natürlich auch. Eigentlich will ich dir was erzählen.«
Er schlug das Notizbuch auf und legte los. Berichtete, dass sie nahe beim Mast Teile des Zünders gefunden hätten. Dass der eine ziemlich primitive Konstruktion gehabt habe. Sagte, dass der Konstrukteur der Bombe vom Gasometer ein Künstler, der vom Mast ein biederer Handwerker gewesen sei. Dass es deshalb seiner Meinung nach keine Verbindung zwischen der Gasometergeschichte und dem Anschlag auf den Mobilfunkmast gebe.
Der Kommissar klappte sein Notizbuch zu und seufzte.
»Jetzt habe ich dir mehr erzählt, als ich das normalerweise bei einem Verdächtigen tue. Dass du verdächtig bist, brauche ich dir ja wohl nicht zu sagen, oder? Jetzt bist du dran.«
Sollte ich gestehen, dass ich die Bombe vom Gasometer
gebaut habe? Dann würde Winter wissen wollen, warum, und ich musste ihm Dinge erzählen, die ihn einfach nichts angingen. Oder ich musste ihm dieses Buch zeigen. Und das wollte ich nicht, auf keinen Fall.
Also gab ich ihm die beiden Zettel, die ich in der Garage und im Zeitungskasten gefunden hatte.
»Schnauze halten! Sonst …«, las der Kommissar laut vor.
Und noch einmal »Schnauze halten!«.
Er legte die Zettel vor sich auf den Couchtisch. »Was soll das?«, fragte er.
»Ich werde bedroht«, schrieb ich hastig. »Angerufen hat auch schon einer. Mein Vater war dran.«
»Hat er die Stimme erkannt?«, fragte Winter. Ich schüttelte den Kopf.
»Warum sollte dich jemand bedrohen?«, fragte er weiter.
»Der Sturz. Ich muss vorher was gesehen haben.«
»Und was?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. Super, »keine Ahnung« klappte also auch wieder.
Winter nahm einen Papierbeutel aus der Jackentasche und steckte die beiden Zettel vorsichtig hinein.
»Ich werde sie von unseren Spezialisten untersuchen lassen«, sagte er. »Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob sie von zwei verschiedenen Leuten geschrieben worden sind. Aber unsere Sachverständigen verstehen mehr davon als ich.«
»Ich habe Angst«, schrieb ich.
»Verstehe ich«, sagte der Kommissar. »Ruf mich an,
wenn dir irgendetwas merkwürdig vorkommt, wenn du glaubst, jemand verfolgt dich, oder wenn vor eurem Haus ein fremdes Auto steht. Hörst du? Mal sehen, vielleicht lasse ich hier im Viertel auch verstärkt Streife fahren.«
»Fangschaltung?«, schrieb ich.
»Du kennst dich gut aus«, sagte Winter lächelnd. »Ich werde darüber nachdenken. Fangschaltungen bringen heute nicht mehr so viel. Wenn einer clever ist, kriegen wir ihn damit nicht.«
Als ich ihn an der Haustür verabschiedete, klopfte mir der Kommissar freundschaftlich auf die Schulter. »Viel Spaß mit der Königin«, sagte er. Und: »Schön, dass wir endlich zusammenarbeiten.« Und zum Schluss: »Komm bitte morgen Nachmittag zu mir ins Präsidium. Wir brauchen deine Fingerabdrücke. Zimmer 431. Um drei, ja?«
In genau 28 Stunden haben sie mich, Doc. Sie werden feststellen, dass meine Fingerabdrücke auf der Bombe aus dem Gasometer sind. Und vielleicht auch auf dem Klebestreifen, den sie am Mast gefunden haben. Was bin ich bloß für ein Idiot gewesen! Ob ich mir die Fingerkuppen verbrenne, damit sie keine Abdrücke nehmen können? Dann warten sie, bis die Wunden verheilt sind. Oder soll ich einfach nicht hingehen? Dann werden sie mich holen. Und wenn ich abhaue, noch heute Nacht? Aber wie soll ich unterwegs zurechtkommen, ohne vernünftig sprechen zu können?
Meine Armbanduhr zeigt 23.13 Uhr. Ich habe mich noch einmal an den Schreibtisch gesetzt. Alles ist still im Haus, meine Eltern sind schon ins Bett gegangen. Ich habe ihnen noch nichts erzählt, vielleicht tue ich es morgen. Irgendwo in der Nachbarschaft bellt ein Hund, durch mein Fenster sind die Sterne zu sehen. Mir bleiben knappe sechzehn Stunden, bis sie mich haben. Ich bin jetzt ruhiger, man kann sich wohl auch an die Aussicht auf eine Katastrophe gewöhnen. Immer wenn ich im Moment an die Nacht denke, sehe ich den Mann vor mir, der mir nach der Explosion auf dem Katzenberg aufgefallen ist. Ich sehe jemanden, der total überrascht ist. Überrascht und erschrocken. Kehrt meine Erinnerung zurück? Habe ich den Mann in der Nacht tatsächlich am Mast gesehen? Vielleicht mit einer Freundin? Hat er den Rettungswagen alarmiert? Verdammt viele Fragen, stimmt’s?
Deshalb erst einmal:
Gute Nacht, Doc!
Jonas
Lieber Doktor Bach, heute war ein verrückter
Weitere Kostenlose Bücher