Die Stille zwischen den Sternen
immer im Verdacht, Jonas, das ist nach allem, was du aufgeschrieben hast, klar. Aber jetzt ist er verwirrt. Wie wir alle. Er hat bestimmt nicht damit gerechnet, dass du so bereitwillig zugibst, zum Zeitpunkt der Explosion auf dem Katzenberg gewesen zu sein. Bis dahin warst du sein Täter Nummer eins, darauf gehe ich jede Wette ein. Im Gasometer hat es nicht geklappt, hat Winter gedacht, jetzt hat es der Jonas am Sendemast probiert. Liegt ja auch auf der Hand, oder? Wir beide wissen, dass du mit dem Anschlag auf den Mast nichts zu tun hast.
Und du willst wirklich noch immer nicht mit dem Kommissar zusammenarbeiten? Trotz der Drohungen? Was hältst du von dem Vorschlag, dass wir beide gemeinsam zu ihm gehen?
Bis jetzt gibt es nur den anonymen Anruf und den Zettel an deinem Fahrrad. Aber kannst du sicher sein, dass es dabei bleibt? Willst du die nächste Zeit ständig mit dieser Bedrohung leben? Vielleicht findet Winter ja mit seinen Mitteln heraus, von wem der Zettel stammt. Also, mein Lieber, überleg’s dir, ja? Ich muss jetzt Schluss machen, der Piepser meldet sich. Halt die Ohren steif, Jonas.
Herzliche Grüße
Bach
PS: Mit meinem Kaktus geht’s aufwärts. Es sieht so aus, als ob er ein neues Blatt bekommt.
Lieber Doc,
ein neues Blatt heißt beim Kaktus Spross. Aber das müssen Sie nicht unbedingt wissen. Hauptsache, Ihrem Echinocereus geht es wieder gut. Wenn Sie ihm im nächsten Frühjahr Kakteendünger geben, blüht er vielleicht sogar.
Mit meinem Sprechen klappt es jeden Tag besser. Ich sage jetzt wieder »Guten Morgen«, »Hallo«, »Wiedersehen«, »Guten Appetit«, »Danke«, »Bitte«. Meine Eltern sind begeistert. Sie warten natürlich auf »Mama« und »Papa«, aber so weit bin ich noch nicht. Das heißt, wenn ich wollte, könnte ich schon. Nur - ich will nicht. Solange sie mit mir nicht darüber sprechen, was zwischen ihnen los ist, werde ich zu ihnen nicht »Mama« und »Papa« sagen.
Inzwischen kann ich aber ohne Probleme ganze Gedichtzeilen aufsagen, die ich mal gelernt habe: »Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder«, oder: »Hinter eines Baumes Rinde saß die Made mit dem Kinde«, oder: »Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen.« Das kommt raus wie vor meinem Sturz. Nur wenn ich ausdrücken möchte, was mir gerade durch den Kopf geht, brauche ich meinen Block. Irgendwann wird das hoffentlich nicht mehr sein müssen. Dann werde ich Rieke alles sagen, was ich ihr schon lange sagen will. Und Ihnen werde ich einen Witz erzählen. Ich kenne noch einen mit einer Schildkröte …
Heute Morgen hatte ich keine Kopfschmerzen. Ich fühlte mich gut, aß drei Brötchen und trank eine halbe Kanne Kakao.
Als ich das Haus verließ, lag ein Zettel im Zeitungskasten. Ich wusste genau, was das für ein Zettel war, ich brauchte ihn eigentlich gar nicht zu lesen. Trotzdem tat ich es.
Wie auf dem Stück Papier, das sie unter meine Fahrradklingel geklemmt hatten, stand da: »Schnauze halten!« Aber dann stand da noch ein Wort, nämlich: »Sonst …« Ob Sie es glauben oder nicht - die Pünktchen hauten mich um. Sie verwandelten sich auf der Stelle in Pistolenkugeln und fliegende Messer.
Der Kommissar muss mir helfen, das weiß ich jetzt. Ich hatte heute Morgen solche Angst, dass ich sofort alle Türen abgeschlossen und mich in meinem Zimmer verkrochen habe. Mit der Truhe unter der Türklinke.
Ich wollte Winter gerade anrufen, da klingelte es an der Haustür. Es war der Kommissar. Diesmal hätte er sich keinen besseren Moment aussuchen können.
»Hallo, Jonas«, begrüßte er mich.
»Hallo«, sagte ich.
Winter schaute mich überrascht an. »Du sprichst ja«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nur ein bisschen«, schrieb ich auf den Block.
»Na, wunderbar«, sagte der Kommissar. »Aber du siehst schlecht aus. Geht’s dir nicht gut?«
»Nicht besonders.«
Er drückte mir einen Plastikbeutel in die Hand. »Für dich«, sagte er.
Es war eine Selenicereus grandiflorus, eine »Königin
der Nacht«. Davon hatte ich schon lange geträumt. Die Blüten öffnen sich in der Dämmerung, blühen nachts und welken am nächsten Morgen. Sie duften stark nach Vanille, wenigstens habe ich das gelesen.
»Die habe ich selbst gezogen«, erklärte Winter. »Nicht alle Königinnen blühen. Die Damen sind sehr eigenwillig. Vielleicht schaffst du es ja. Du scheinst ein gutes Händchen für Kakteen zu haben.«
Ich stellte den Kaktus auf die Fensterbank und sagte Danke.
Winter lächelte.
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