Die Stille zwischen den Sternen
Vokale meines »Au« nacheinander zu sprechen.
Beim Scrabble strengte sich Frau Fischer mehr an als beim letzten Mal. Trotzdem hatte sie keine Chance. Sie weiß ja nicht, dass ich jeden Tag mindestens zwei Stunden lang schreibe. Wörter sind mir inzwischen so vertraut wie nichts anderes.
»Tschüss, Jonas«, sagte Frau Fischer zum Abschied. »Mach weiter so.«
»A«, sagte ich und »u« und war richtig stolz auf mich.
Aber unterwegs merkte ich, wie lächerlich meine Fortschritte waren. Ein Mann fragte mich nach dem Weg, und mir blieb nichts anderes übrig, als es ihm auf meinem Block aufzuzeichnen. Nachdem ich damit fertig war, bedankte er sich, drückte mir eine Mark in die Hand und verschwand um die nächste Ecke. Und ich? Ich hätte ihm am liebsten hinterhergeschrien, was ihm eigentlich einfiele, mich wie einen Bettler zu behandeln. Ohne dass ich es richtig mitgekriegt hatte, war ich inzwischen in die Kurfürstenstraße gegangen. Die Vorhänge in Riekes Haus waren zugezogen, alles
machte einen unbewohnten Eindruck. Trotzdem klingelte ich. Ich musste Rieke sehen, ich hielt es ohne sie nicht aus! Aber drinnen rührte sich nichts. Also riss ich einen Zettel vom Block und schrieb in Großbuchstaben: »MIR GEHT’S SCHLECHT. ICH MUSS DICH SEHEN! JONAS.«
Den Zettel steckte ich so in den Briefkasten, dass er ein Stück herausschaute.
Nicht ganz eine Stunde später klingelte es bei uns. Es war Rieke. Ihr Gesicht war gerötet, das T-Shirt schweißnass. Sie ließ sich in den Sessel neben meinem Schreibtisch fallen.
»Ich dachte schon, ich finde dich nicht mehr«, sagte sie.
Mann, sie wusste ja gar nicht, wo ich wohne. Bestimmt hatte sie alle zwölf Familien Klinger, die es in Schwatten gibt, abgeklappert.
»Durstig?«, schrieb ich auf meinen Block.
Gierig trank sie das Wasser, das ich ihr brachte.
»Au«, sagte ich, als sie damit fertig war.
»Wie bitte?«
»Ich kann jetzt ›mhm‹ machen und ›au‹ sagen«, schrieb ich.
Rieke starrte mich böse an. »Und deswegen holst du mich her?«, rief sie. »Deswegen lässt du mich wie blöde in Schwatten rumfahren?«
»Du bist freiwillig gekommen.«
»Aber du hast geschrieben, dass es dir schlecht geht. Da habe ich gedacht, dass was mit deinem Kopf ist. Oder du andere Schwierigkeiten hast.«
Habe ich auch.
Rieke musterte mich von oben bis unten. »Nichts zu sehen«, sagte sie. »Oder ist es vielleicht was Inneres?«
Genau.
»Bauchschmerzen?«
Nein, höher.
»Herzschmerzen?«
Du sagst es.
Im ersten Augenblick sah Rieke richtig erschrocken aus. Aber plötzlich lachte sie los. »Ach so, die Herzschmerzen meinst du!«
Sie stand auf, kniete sich vor mich auf den Boden und legte die Ellbogen auf meine Knie. »Ich mag dich, Jonas«, sagte sie. »Ehrlich! Bloß …«
Ich verschloss ihr mit der Hand den Mund und schrieb: »Den anderen magst du mehr.«
Rieke zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht«, sagte sie leise. »Mit dir ist alles einfacher. Du bringst keine blöden Sprüche. Bei dir habe ich Zeit, nachzudenken. Du …«
Wieder legte ich ihr die Hand auf den Mund und schrieb: »Aber ich spreche nicht.«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, wie du klingst, wenn du fröhlich bist. Oder wütend. Oder« - sie grinste - »wenn du Herzschmerzen hast. Ich weiß nicht einmal, wie es ist, wenn du einen Witz erzählst.«
Sie legte mir die Arme um den Hals und zog meinen Kopf an ihre Schulter.
»Rieke«, sagte ich, »Rieke.« Es war so einfach, als hätte ich nie meine Sprache verloren.
Was für ein Kitsch - das denken Sie doch, Doc, stimmt’s? Aber es ist so passiert, ehrlich. »Rieke« war plötzlich da. Als ob das Wort irgendwo hinter meinen Stimmbändern gewartet hätte, dass es endlich rausdarf.
Rieke blieb noch lange bei mir. Wir redeten, das heißt, Rieke redete und ich schrieb, sagte ab und zu »Rieke«, »mhm« oder »au« und versuchte mich - vergeblich - an »Ei«. Dann schwiegen wir wieder und hörten Musik.
Als meine Mutter nach Hause kam, lagen wir auf dem Rasen in der Abendsonne.
»Du hast Besuch?«, begrüßte sie mich.
Bevor Rieke etwas sagen konnte, brachte ich »Rieke« heraus. Es klang immer noch nicht toll, aber es wurde von Mal zu Mal besser.
»Aha, das ist Rieke«, murmelte meine Mutter, die gar nicht mitbekommen hatte, dass ich gerade deutlich gesprochen hatte.
Doch dann fiel der Groschen. »Jonas!«, rief sie. »Jonas!«
Rieke stand auf und gab meiner Mutter die Hand. »Hallo«, sagte sie, und: »Ist doch super, nicht?«
Ich hielt
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